Buttamigiù und Tiramisù

10. September 2012 Kurt Bracharz
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Das Tiramisù ist heute ein so beliebtes dolce, dass man es auf beinahe jeder Dessertkarte von italienischen Restaurants in Norditalien oder im Ausland finden kann. Das mag auch damit zusammenhängen, dass man bei seiner Herstellung nicht mit der sonst bei Süßspeisen üblichen Konditorenpräzision hinsichtlich der Mengen und der Temperaturen vorgehen muss, weil ein Tiramisù nicht erwärmt wird und relativ einfach zuzubereiten ist.

"Das Gourmethandbuch" von Udo Pini, Königswinter 2000, beschreibt das Tiramisù als ein Dessert "aus Eigelbschaum mit Mascarpone samt Espresso und "Grand Marnier" oder Amaretto auf einer Ricotta-Schicht voller kaffeedurchtränkter Löffelbiskuits unter kakaoüberpuderter Creme". Als besondere Raffinesse könne auch noch etwas Marsala hinzugefügt werden, aber wenn es zuviel Marsala enthält, "dankt man dem Koch für das buttamigiù (ital. = hau mich um)".

"Tiramisù" wird übersetzt mit "Zieh mich hoch, mach mich munter, richte mich auf", und diese Namensgebung soll typisch sein für "jene clevere Mixtur aus Dolce vita und Marketing, die in den 1960er Jahren den fantasievollen Köchen der italienischen Nobellokal-Kette "El Toulà" einfiel" (Monika Schuster: "Echte Klassiker, die jeder liebt", München 2009). Pini verortet die Erfindung etwas präziser im "El Toulà" in Treviso, während Wikipedia behauptet, der Name Tiramisù sei erstmals 1970 im Restaurant "Beccherie" in Treviso auf die Karte gesetzt worden, wobei dessen Geschäftsführer Giancarlo Campeol zusammen mit dem Jungkoch Roberto Linguanotto das Rezept aber zuvor schon seit langem verwendet habe. Antonio Carluccio behauptet in "Italien. Die 125 besten Rezepte aus allen Regionen", München 2005, der Erfinder des Namens in den 1970er Jahren im "El Toulà" sei dessen Geschäftsführer Alfredo Beltrame gewesen.

Während viele italienische Kochbücher kein Tiramisù-Rezept enthalten – vielleicht, weil sie es für allgemein bekannt und damit nicht wiedergebenswert halten ­– findet man im Standardwerk "Der Silberschlüssel" ein Rezept dafür, aber es enthält keinen Alkohol. Dafür geriebene Schokolade statt des Kakaopulvers. Einig sind sich alle darin, dass Eidotter und Puderzucker schaumig gerührt und dann Mascarpone und steif geschlagener Eischnee untergezogen werden. Der Boden einer rechteckigen Form wird mit Löffelbiskuits ausgelegt und diese werden mit frisch gebrühtem, erkaltetem Espresso beträufelt. Darauf wird eine Schicht der Mascarponecreme verstrichen, dann folgt wieder eine Schicht Biskuits und eine Schicht Creme. Zwei bis vier Schichten sind üblich, auf die Oberfläche kommt Kakaopulver. Dann muss das Tiramisù gekühlt mindestens drei bis vier – andere meinen: zehn – Stunden ziehen.

Hinsichtlich des richtigen Feuchtigkeitsgrades schreibt Monika Schuster: "Bei einem perfekten Tiramisù sind die Löffelbiskuits noch gut erkennbar und nicht ganz durchgeweicht." Patricia Wells merkt in "Trattoria. Rezepte aus Mammas Küche", Cham 1993, an: "Meist wird das Ganze mit Kakaopulver bestreut, doch finde ich dies ziemlich störend: Auf den ersten Biß folgt unvermeidlich ein Hustenanfall. Ich nehme statt dessen geriebene Bitterschokolade. Die beste Version habe ich wohl in Venedig in der kleinen, volkstümlichen Trattoria Antica Besseta gegessen." Sie verwendet "sehr starken Espresso" sowie Marsala oder Grappa, trinkt Vin Santo zum Tiramisù und berichtet, dass sie einmal ein Tiramisù besonders schnell herunterkühlen wollte, was zur Folge hatte, dass sie ein "sehr schön festes halbgefrorenes Dessert erhielt, das ich jetzt sogar dem traditionellen Tiramisù vorziehe. Das Gefrieren hebt irgendwie die Schwere des Mascarpone auf, und man erhält ein Dessert, das – dem Gaumen zumindest – leichter erscheint, als es in Wirklichkeit ist".

Anna Del Conte empfiehlt in "Gastliches Italien", München 2002, statt Löffelbiskuits lieber Savoiardi-Biskuits zu verwenden, die weniger süß sind und die Flüssigkeit besser aufnehmen. Sie nimmt Weinbrand statt Amaretto, macht vier Schichten, verstreicht vor dem Servieren restliche Creme auf der Oberfläche des Tiramisù, bestreut sie mit geraspelter Schokolade und dekoriert sie mit Kaffeebohnen.

Eine ungewöhnliche Variante mit Reis schlagen Martina Meuth und Bernd Neuner-Duttenhofer in "Venetien und Friaul. Küche, Land und Leute", München 1990, vor. Dafür lässt man Reis in heißer Milch mit Zimt und Vanille quellen und mischt ihn ausgekühlt unter Mascarpone-Eischnee-Masse. Das Autorenpaar verwendet wie auch bei seinem herkömmlichen "Tira mi su"-Rezept in demselben Buch einen Orangenlikör statt Amaretto. Auch für die Herkunft haben sie eine unübliche Erklärung: "In Venetien hat der auch bei uns zum Modedessert avancierte Nachtisch seinen Ursprung: Die Waschfrauen stärkten sich an kalten Wintertagen mit biscotti, die sie in den Kaffee stippten und unter einer sahnigen Creme versteckten. Das brachte sie wieder auf die Beine."

Die strukturelle Ähnlichkeit des Tiramisù mit der aus dem 19. Jahrhundert bekannten Zuppa inglese, einer mit Englischer Creme gefüllten Schichttorte, oder deren Vorläuferin, der noch älteren toskanischen Zuppa del duca, ist nicht zu übersehen, aber die mit Mascarpone gefüllte Charlotte Tiramisù hat an Beliebtheit alle anderen Biskuit-Creme-Aufschichtungen weit abgehängt.