Der bundesdeutsche Film der 1950er Jahre ist seit Dekaden ein weißer Fleck auf der cinephilen Kinoweltkarte. Wenn man sich’s einfach machen wollte, könnte man behaupten: Schuld daran ist das Junge Deutsche Film-Establishment, das spätestens seit dem Oberhausener Manifest (1962) so vehement gegen das Kino der Vätergeneration Front machte, dass man irgendwann aufhörte, nach der Produktion der Adenauerjahre zu fragen. Man glaubte einfach, dass hier nur peinliche Unterhaltung von korrupten Regieroutiniers rausgehauen worden wäre.
Partiell stimmt das durchaus. Aber die Wirklichkeit ist ungleich komplizierter, denn: Schon weite Teile der Nachkriegsfilmkritik in Deutschland agitierten nicht nur gegen die als unzulänglich diskreditierte Genrekonfektion, sondern auch gegen das große Kino von Regiestars wie Helmut Käutner oder Kurt Hoffmann, mit dem die BRD international reüssierte. Der bundesdeutsche Film besaß damals weltweit eine bemerkenswerte Präsenz, auf Festivals wie im Verleihalltag; er wurde von renommierten Kritikern häufig gelobt und gewann zudem allerhand Preise (so erhielt von 1954 bis 1959 jedes Jahr auch mindestens eine BRD-Produktion den stets ex aequo ausgelobten Golden Globe für den Besten Ausländischen Film des Jahres).
Zuhause aber, so scheint es, konnte dieses Kino nie etwas richtig machen. Das passt wiederum perfekt zu einem Land, welches Heinrich Böll in seinem Essay "Hierzulande" (1960) als "ungenau" bezeichnete. Damit meinte er, dass die BRD nie dem entsprach, was man sich von ihr erwartete – sie war immer schlechter und besser als man dachte, widersprach jedem Klischee und machte es politisch niemandem recht, am wenigsten sich selbst. Kurz: Das Land war eine einzige Neurose – und damit der perfekte Nährboden für einen film noir, so innerlich zerfetzt, von Dämonen bevölkert und Albträumen gequält wie keine andere Erscheinungsform dieses Stils in Europa.
Noir konnte in der BRD alles sein, nicht nur der Kriminalfilm in sämtlichen Spielarten vom Journalistenreißer (Der Fall Rabanser) über den Kalten-Krieg-Spionagethriller (Victor Vicas‘ Weg ohne Umkehr) bis hin zum Justizkrimi (Der letzte Zeuge von Wolfgang Staudte). Auch der Heimatfilm konnte tres noir werden (wie im erstaunlichen Todesmelodram Rosen blühen auf dem Heidegrab); detto der Horrorfilm (1950: Vom Teufel gejagt, 1959: Die Nackte und der Satan) und natürlich auch das bundesrepublikanischste aller Genres, der Zeitfilm (Sündige Grenze und Nasser Asphalt). Nicht zu vergessen: das Liebesdrama (Der gläserne Turm); der von Halbstarken belebte Straßenfilm (Gerd Oswalds Am Tag, als der Regen kam); und die allen Zuordnungen sich verweigernden Experimente in Erzählperspektiven-Verschiebung wie Peter Pewas‘ Viele kamen vorbei, die Seelenstudie eines Serienmörders. Noir war fast die einzige Art und Weise, wie man über die Verhältnisse in der BRD angemessen sprechen konnte – der Realismus einer Nation voller odds against tomorrow.
In diesem Kino findet man denn auch einige der wahrhaftigsten Bilder dieses Landes – gesehen oft von Emigranten, Remigranten oder Regisseuren, die ihre Heimat aus politischen Gründen verließen. Es brauchte vielleicht einen Tschechen, um das Niemandsland an der innerdeutschen Grenze, die Fluchten und Tunnel unter der Reichskanzlei als eine Stein- und Unkrautwüste zu zeigen (Die Spur führt nach Berlin von Franz Cap); einen Hollywood-erfahrenen Regieroutinier, um die US-Stützpunkte im BRD-Hinterland in ihrer ganzen verführerischen Verkommenheit schillern zu lassen (Die goldene Pest von John Brahm); einen Unbehausten mit Nazipropaganda-Vergangenheit und zerschlagenen Amerika-Träumen, damit Westberlin zwischen Brache und Architektur-Aufbruch sein singuläres Flair entfalten konnte (Banktresor 713 von Werner Klingler). Hier zeigt sich die BRD von ihrer welterfahrungshungrigsten Seite – hier träumt sie von Pulp-Helden, gibt sich gefährlich wie das mythenumrankte Chicago der 1930er, sucht den Anschluss rückwärts, zur Weimarer Moderne, sowie seitwärts zu allem, was aufregend und neu ist im Kunstlebens Frankreichs, Italiens, der USA.
Diese Filme sind eine Schule des Sehens für den BRD-Film der Adenauerjahre – ein Schlüssel, der es ermöglicht, dieses Kino als Ganzes noch einmal anders zu befragen. Erfahrbar wird eine Filmkultur der Brüche, die alle politischen und sozialen Fragen jener Jahre verhandelt, manchmal allegorisch, manchmal erstaunlich direkt. Und es zeigt sich ein Kino, dessen Zeit erneut gekommen ist: Die Trümmer und Grenzverläufe sind andere, die Flüchtlinge strömen aus neuen Richtungen herein, die politischen Allianzen haben sich verschoben – doch gewisse Machenschaften der Mächtigen sind dieselben geblieben, und auch an den Verhältnissen zwischen den Geschlechtern hat sich weniger verändert, als wir uns weismachen wollen. Es gibt noch viel zu lernen.
BRD Noir
10. März bis 2. April 2017