Braucht Gesellschaft Kunst?

Wie und wodurch hat Kunst in den letzten sechzig Jahren in die öffentliche Diskussion eingewirkt? Welche Debatten hat sie initiiert? Welche Diskurse angestoßen oder begleitet? Diesen Fragen widmet sich die Ausstellung "Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?", die vom 20. Oktober 2012 an in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden zu sehen sein wird. Dabei geht es nicht um die Aufstellung und Illustration einer kuratorischen These, sondern um eine konkrete Beweisführung anhand einzelner künstlerischer Werke.

"Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?" wirft den Blick zurück in die jüngere Zeitgeschichte seit 1945. Die Auswahl der gezeigten Werke erfolgt nach einem zunächst scheinbar ungewöhnlichen Kriterium: der konkreten und damit nachweisbaren Wirkung der jeweiligen künstlerischen Arbeit in einem zivilgesellschaftlichen Umfeld. Illustriert werden Prozesse unterschiedlicher Natur, die dazu geführt haben, dass einzelne Kunstwerke weit über ihre ästhetische Rezeption hinaus zu wichtigen gesellschaftlichen Symbolen avancieren.

Ein zentrales Werk der Ausstellung ist Gerhard Richters Gemälde "Onkel Rudi". So bekannt dieses Bild heute ist, so wenig bekannt ist dessen verwickelte Rezeptionsgeschichte. Sie kann als ein besonderes Beispiel gelesen werden, wie Kunst in den zivilgesellschaftlichen Prozess der Auseinandersetzung mit historischem Unrecht einzuwirken vermag: 1968 reiste der deutsche Galerist und spätere Kurator René Block mit Werken zeitgenössischer deutscher Künstler nach Prag – darunter auch das Bild Gerhard Richters von seinem Onkel in Wehrmachtsuniform –, um sie dort in einer Galerie auszustellen und anschließend der Gemeinde Lidice zu schenken, die 1941 von den Nationalsozialisten vernichtet worden war. Die Kunstwerke gaben jedoch nur ein kurzes Zwischenspiel: nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen und dem abrupten Ende des Prager Frühlings wurden sie an einen sicheren Ort gebracht. Erst dreißig Jahre später auf dem Dachboden eines Schlosses unweit von Prag wieder entdeckt, wurden die Werke offiziell überreicht. Aus einer zunächst privaten Initiative ist so über mehrere Jahrzehnte ein Akt der ethischen Entschädigung geworden.

Ohne zeitliche Verschiebung hat Christoph Schlingensiefs Aktion "Ausländer Raus!" aus dem Jahr 2000 gewirkt. Auf Einladung des Intendanten der Wiener Festwochen Luc Bondy hatte Schlingensief in direkter Nachbarschaft zur Wiener Staatsoper ein Containerdorf mit Asylbewerbern errichtet. Durch Telefonwahl oder per Mausklick konnte man sie im Big Brother-Stil des Landes verweisen. Der "Sieger" schließlich sollte mit einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung durch Ehelichung einer Inländerin prämiert werden. Schlingensiefs Abschiebungsinszenierung, die mit der kurz zuvor angelobten österreichischen Regierungskoalition aus konservativer Volkspartei und der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs unter der Ägide Jörg Haiders koinzidierte, rief ein enormes Echo hervor.

"Onkel Rudi" und die Aktion "Ausländer Raus!" sind nur zwei Beispiele, mit denen die Baden-Badener Ausstellung "Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?" dem konkreten Einfluss von Kunst auf öffentliche Debatten nachspürt. Als poetisches Bild für den Anspruch des gesamten Ausstellungsprojektes mag Francis Alÿs’ Installation "When Faith Moves Mountains" stehen. In einer groß angelegten Aktion versammelte der Künstler 2002 mehr als 500 Freiwillige in Lima, um nur mit Schaufeln ausgestattet den Versuch zu unternehmen, einen Berg zu bewegen. In diesem so stolzen wie machtlosen Akt gegenüber den Kräften der Natur hat Alÿs eine metaphorische Geste geschaffen. In "Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?" dient sie als Parabel für die utopische, weil nicht immer in Einklang mit den realen Bedingungen stehende Absicht der Ausstellung.

"Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?" versammelt Werke von unter anderen: Francis Alÿs, Karel Appel, Georg Baselitz, Joseph Beuys, KP Bremer, Christo & Jeanne Claude, Jeremy Deller, Felix Droese, K. O. Götz, Gotthard Graubner, Hans Haacke, Jörg Immendorff, Alfredo Jaar, Rolf Julius, Käthe Kollwitz, Wolfgang Mattheuer, A. R. Penck, Gerhard Richter, Karin Sander, Christoph Schlingensief, Willi Sitte, Gerhard Wendland, Stephan Wewerka, Klaus Staeck und Hann Trier.

Bilderbedarf
Braucht Gesellschaft Kunst?
20. Oktober 2012 bis 17. Februar 2013