Blinde Blicke. Sehen und Nichtsehen bei Menzel

Die Kunst ist – oder war zumindest über weite Strecken der Kunstgeschichte – auf Sichtbarkeit und damit den Akt des Sehens hin angelegt. In der Tat hat Adolph Menzel wie wohl kaum ein anderer deutscher Künstler des 19. Jahrhunderts dieses manische Sehen so explizit zum Thema seiner Kunst gemacht. Insbesondere seine Zeichnungen und farbigen Arbeiten auf Papier kreisen um die zentrale Rolle des Auges als Organ und Motiv der ständige Reflexion des Sehens im "Labyrinth der Wirklichkeit" (so der Titel der internationalen Menzel Ausstellung in 1996/97). Besonders interessant und einzigartig wird diese Form der Selbstvergewisserung dann, wenn nicht nur das aufgeregte Sehen, sondern auch das Nichtsehen, die Blindheit, ja selbst die radikale Auslöschung des Auges bzw. des Gesichts zu einem wesentlichen Aspekt der künstlerischen Arbeit wird.

Die Studio-Ausstellung des Kupferstichkabinetts im Menzel-Kabinett der Alten Nationalgalerie spürt diesem bisher unerforschten Umstand mit einer Auswahl an Gouachen, Aquarellen, Zeichnungen und druckgraphischen Werken aus seiner berühmten Menzel-Sammlung nach, von denen viele noch nie öffentlich präsentiert wurden. Der Bogen spannt sich vom schaulustigen Gaffen der Zoobesucher im Bärenzwinger bis hin zum Konzert bei Bilse, dessen Zuhörer ein explizites Wegsehen zelebrieren; von Eisenbahnpassagieren, die sich dem Wahrnehmungserlebnis der schnellen Fahrt durch Schlaf entziehen bis hin zum Selbstporträt Menzels als Betrachter vor dem Flötenkonzert und dem Selbstbildnis in starker Verkürzung, das Paul Valérys Formel "Ich sehe mich, mich sehen" bildhaften Ausdruck verleiht; von übergierigen Augen, die Opern- oder Ferngläser als Sehprothesen benutzen über Blindekuh-Spieler bis hin zu augenlosen Spukwesen, gelöschten Gesichtern und aus dem Blatt herausgeschnittenen und -gerissenen Augen.

Die Schau wurde von Frida-Marie Grigull (Friedrich-Schiller-Universität Jena) konzipiert und gemeinsam mit dem Kupferstichkabinett anlässlich des 200. Geburtstages von Adolph Menzel kuratiert. Ausstellung und Katalog sind ein Kooperationsprojekt des Kupferstichkabinetts – Staatliche Museen zu Berlin und dem DFG-geförderten Schwerpunktprogramm "1688 Ästhetische Eigenzeiten, Teilprojekt Bild – Blick – Zeit. Die rezeptionsästhetische Temporalität des Bildes" (Friedrich-Schiller-Universität Jena, Universität Bielefeld).


Blinde Blicke. Sehen und Nichtsehen bei Menzel
8. Dezember 2015 bis 21. Februar 2016