Binia Bills Werk ist nicht nur ein wertvolles Dokument der Kunst- und Kulturszene ihrer Zeit, sondern auch ein eigenständiges Œuvre, das die moderne Bildsprache der Vorkriegszeit mit individueller Sensibilität verbindet. Die Retrospektive Binia Bill - Bilder und Fragmente in der Fotostiftung Schweiz bietet einen umfassenden Einblick in ihr Schaffen und würdigt ihre Rolle als Pionierin der modernen Fotografie.
Die Ausstellung in Winterthur spannt einen Bogen von der angewandten Fotografie bis hin zu freien fotografischen Arbeiten. Gezeigt werden Produktinszenierungen, Architekturaufnahmen, Porträts, Stillleben und Pflanzenstudien. Der erste Raum stellt mit einer Reihe von Selbstporträts die junge Binia Bill vor, die sich Anfang der 1930er Jahre ehrgeizig und selbstbewusst ihrem neuen Beruf zuwandte. Ihre frühen Auftragsarbeiten werden in Vitrinen den von Max Bill gestalteten Prospekten, Plakaten und Anzeigen gegenübergestellt. Ein wichtiger Auftraggeber des Ehepaars Bill war die 1931 gegründete Firma Wohnbedarf. Binia Bill dokumentierte die Werbeplakate von Max Bill in Schaufenstern und an Hausfassaden ebenso wie sein künstlerisches Werk und das 1933 erbaute Atelierhaus in Zürich-Höngg. Mit ihren Aufnahmen trug Binia Bill wesentlich zur öffentlichen Wahrnehmung des Architekten und Künstlers bei.
Im zweiten Raum thematisiert eine Porträtserie die Begegnungen und Freundschaften der Bills mit dem Architektenpaar Elsa Burckhardt-Blum und E. F. Burckhardt. F. Burckhardt, den Künstler:innen Hans Arp, Max Ernst und Verena Loewensberg. Binia Bills Darstellungen dieser Persönlichkeiten zeichnen sich zum Teil durch ungewohnte Perspektiven, vor allem aber durch eine familiär anmutende Inszenierung aus. Ein weiteres Kapitel der Ausstellung beleuchtet Bildgruppen, mit denen Binia Bill in reportageartigem Stil beispielsweise eine Schafschur, einen Kleintiermarkt in Paris und einen Wanderzirkus festhielt.
Der letzte Teil der Ausstellung widmet sich der fotografischen Auseinandersetzung mit Körpern, Objekten und Pflanzen, die Binia Bill vor verschiedenen Hintergründen arrangiert. Dabei orientiert sie sich an einer avantgardistischen Fotografie, die die spezifischen Eigenschaften und Möglichkeiten des Mediums auslotet: die detailgetreue Wiedergabe von Oberflächen, die Betonung von Licht- und Schattenkontrasten sowie der experimentelle Umgang mit Ausschnitten und Perspektiven.
Dass Binia Bill nicht nur für den angewandten Bereich arbeitete, sondern ihre Bilder auch als Kunstwerke verstand, zeigen die großformatigen Abzüge, die sie bereits in den 1930er Jahren für Ausstellungen produzierte. Ergänzt werden diese Vintage Prints durch rund 78 neu produzierte Inkjet Prints von zum Teil bisher unveröffentlichten Aufnahmen. Möglich wurde dies durch eine umfassende Aufarbeitung und Digitalisierung des Negativarchivs von Binia Bill. Seit Anfang 2024 befindet sich der gesamte fotografische Nachlass in der Fotostiftung Schweiz und konnte dank der grosszügigen finanziellen Unterstützung von Jakob und Chantal Bill gereinigt und neu verpackt werden. Die Übergabe des Archivs und die Aufarbeitung des Nachlasses werden mit der Ausstellung Binia Bill - Bilder und Fragmente abgerundet.
Was von Binia Bills Werk erhalten ist, spricht für einen gebührenden Platz in der internationalen Fotogeschichte: Sie gehörte zu den wenigen Frauen in der Schweiz, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl angewandt als auch künstlerisch mit der Kamera arbeiteten. Ihre Fotografien sind heute fester Bestandteil des Bildgedächtnisses der Schweizer Moderne.
Binia Mathilde Spoerri (1904-1988) war die jüngste der drei Töchter von Ida Spoerri-Gross und Ferdinand Jakob Spoerri, die es vom Bauernhof im Tösstal bis zur Vertretung der Gebrüder Volkart in Japan gebracht hatten. Binia wuchs in Zürich-Fluntern auf und begann bereits in ihrer Jugend mit dem Cellospiel. Nach einer Ausbildung zur Konzertcellistin in Paris besuchte sie 1930 die Fotoklasse von Lucia Moholy an der Itten-Schule in Berlin. Zurück in Zürich arbeitete Binia Spoerri als freischaffende Fotografin. 1931 heiratete sie den Architekten und Künstler Max Bill, mit dem sie eine enge Zusammenarbeit begann. In den folgenden Jahren nimmt sie an mehreren Ausstellungen des Schweizer Werkbundes teil. Im Dezember 1935 fand ihre erste und zu Lebzeiten einzige Einzelausstellung mit dem Titel "Pflanzen, Tiere, Menschen, Erde, Wasser, Luft" statt, und 1936 war Binia Bill im von ihrem Mann eingerichteten Schweizer Pavillon auf der VI. Insgesamt war ihre Ausstellungspräsenz für die 1930er Jahre durchaus ungewöhnlich, da es in der Schweiz zu dieser Zeit kaum Fotografinnen mit diesem Selbstverständnis und dieser Anerkennung gab.
Nach der Geburt ihres Sohnes 1942 fotografierte Binia Bill nur noch selten und liess ihr Archiv bewusst in Vergessenheit geraten. Erst nach dem Tod seiner Mutter sichtete Jakob Bill gemeinsam mit seiner Frau Chantal Bill den fotografischen Nachlass. Sie begannen, sich mit der "max, binia + jakob bill stiftung" für das Werk der Fotografin zu engagieren und beschlossen 2023, den Nachlass der Fotostiftung Schweiz zu übergeben.
Binia Bill - Bilder und Fragmente
19. Oktober 2024 bis 26. Januar 2025