Between the Lines

Louise Bourgeois (1911-2010) bewegt sich zeitlebens zwischen verschiedenen Welten. "Obwohl ich Französin bin, kann ich mir nicht vorstellen, irgendeines meiner Werke in Frankreich geschaffen zu haben. Jedes dieser Werke ist amerikanisch, von New York." Geboren in eine gutbürgerliche und kunstsinnige Familie von Tapisserien-Händlern, geniesst sie eine exquisite Bildung und verkehrt bald in den Kreisen der Surrealisten von Paris, um dieses prägende Milieu nach ihrer Heirat 1938 in Richtung USA zu verlassen.

Als sie 1947 die Zeilen in ihrem Tagebuch notiert, durchlebt Bourgeois eine tiefschürfende Krise. Ihre Einsamkeit und Isolation in New York der Nachkriegsjahre als Künstlerin und Mutter von drei kleinen Kindern verarbeitet sie in einem wegweisenden Graphikprojekt: Im selben Jahr erscheint He Disappeared into Complete Silence - das "Drama des Selbst" als ein illustriertes Buch mit neun Kupferstichen und neun Parabeln der Künstlerin. Das zentrale Thema lässt sie nicht mehr los: Ihre Werke oszillieren zwischen tiefster Intimität und lauter Exaltiertheit. Ihr Schaffen steht dabei am Übergang von der abstrakten Formsprache zu den narrativen Strömungen der 1980er Jahre.

Das Pendeln zwischen den Welten zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Werk: "Hat der Tag die Nacht in Beschlag genommen oder die Nacht den Tag?" – fragt sie rhetorisch in einer Tagebuchnotiz vom 7. Februar 1995. Diese Frage wird vier Jahre später als vielsagender Aphorismus einer überwucherten Bildtafel gegenübergestellt und als eines von neun Diptychen in der Folge "What is the Shape of this Problem?" (1999) zusammengefasst.

In den 1990er Jahren erfolgt der Auftakt zu einer fast schon überbordenden Aktivität sowohl in ihrem skulptural-installativen Schaffen – die berühmten Cells / Zellen entstehen – als auch im Bereich der Druckgraphik. Die internationale Anerkennung erreicht ihren Höhepunkt. Bourgeois bleibt dabei dem Medium der Graphik treu, sie schafft über die Jahre hinweg mehrere herausragende Portfolios zusammen mit führenden Verlegern wie Benjamin Shiff, Peter Blum und Jean Frémon. Genauso wie Bourgeois in ihren graphischen Werken über eine beachtliche Bandbreite an formalen Kriterien und eine enorme technische Versiertheit verfügt, hat ihr Werk – ganz in der surrealistischen Tradition - eine vielfältige literarische Komponente.

Auffällig viele Graphikfolgen sind denn auch mit eigenen Texten konzipiert, wobei ganz unterschiedliche Herangehensweisen denkbar sind: Text und Bild können gleichzeitig oder aber unabhängig voneinander entstehen. Die Bildtafeln stellen dabei selbständige Formeln für die in den Texten oft thematisierten menschlichen Ängste dar, sind also niemals nur illustrierend. Keine der Graphikfolgen gleicht in ihrer Erscheinung der anderen, jede ist sorgfältig nach ihrem eigenen Prinzip entworfen und bildet eine unverwechselbare Einheit – dies kann auch als ein weiteres Indiz für die oft beschworene Position Bourgeois" Kunst auf der Schwelle zwischen der traditionskritischen Moderne und der pluralistisch-gestimmten Postmoderne gedeutet werden. Alle erzählten Geschichten spielen vor dem Hintergrund der für Bourgeois so prägenden eigenen Biographie. Allerdings sucht Bourgeois mit ihren Bild-Erzählungen nie eine unmittelbare, reine Botschaft zu vermitteln: sowohl auf der textlichen als auch auf der bildlichen Ebene bleibt stets ein nicht restlos zu entschlüsselnder Sinn verborgen.

Ausgehend vom Ankauf des bedeutenden Künstlerbuches "The Puritan" (1990), den die Graphische Sammlung 2010 getätigt hat, macht sich die geplante Ausstellung zum Ziel, die Schlüsselwerke des graphischen Schaffens von Louise Bourgeois zu präsentieren. Gezeigt werden sieben Suiten, entstanden zwischen 1947 bis 2007, in diversen Techniken ausgeführt und mehrheitlich begleitet von Texten der Künstlerin. Darunter dank der Unterstützung des Louise Bourgeois Studios selten gezeigte Meisterwerke sowie Werke aus privaten und öffentlichen Sammlungen in der Schweiz und den USA. Zur Exposition wird ein reichhaltiges Begleitprogramm angeboten: im Rahmen von Führungen kommt auch die renommierte Bourgeois-Expertin Christiane Meyer-Thoss zu Wort, ausserdem ist eine szenische Lesung ausgewählter Texte der Künstlerin von Graham F. Valentin geplant.

Zur Ausstellung erscheint die Publikation "Between the Lines. Graphikfolgen von Louise Bourgeois" (Beiträge aus der Graphischen Sammlung der ETH Zürich, Band 9), Text von Alexandra Barcal, Basel: Schwabe Verlag AG, 2012; 60 Seiten, mit ca. 30 farbigen Abbildungen, CH 20.-, ISBN 978-3-7965-2892-7.

Between the Lines
Graphikfolgen von Louise Bourgeois
7. November 2012 bis 18. Januar 2013