Die erste umfassende Retrospektive in der Schweiz von Marina Abramović durfte ich nicht versäumen. Die Pionierin der Performance-Kunst zeigt im Kunsthaus Zürich Werke aus allen Schaffensphasen, ikonische Performances sowie eine neue, interaktive Arbeit, „Imponderabilia“ und „Luminosity“ werden sogar live re-inszeniert.
Meine erste höchstpersönliche Begegnung fand 2018 in der Galerie Krinzinger statt. Ich war zur Vernissage gerade in Wien, und irgendwie schaffte ich es – die Menschenschlange füllte die Seilerstätte über die gesamte Länge – hinein zu kommen und mich strategisch so richtig zu positionieren, dass ich nach einer Dreiviertelstunde Wartezeit direkt vor der Künstlerin stand. Es war umwerfend – The Artist is Present.
Das ist auch der Titel einer der aufsehenerregendsten Installation Abramovićs im MoMA New York. Erst später kriegte ich mit – es gibt eine faszinierende gleichnamige Dokumentation – dass ich Anfang Mai 2010 die Möglichkeit versäumte, mich auf den Sessel gegenüber der Künstlerin zu setzen und ihr in die Augen zu schauen, weil ich den Kurztrip von Philadelphia nach New York damals ausgelassen hatte. In Zürich wird diese zehn-wöchige, die Grenzen der Belastbarkeit – es waren insgesamt 1565 Leute, Tag für Tag, von früh bis spät – sprengende Performance wandfüllend dokumentiert. Auf der einen Seite blickt mich Abramovićs aus unzähligen gleichen Videoportraits ruhig an, auf der anderen, die Gesichter der ihr ergriffen gegenübersitzenden Menschen. Es gilt das Hier und Jetzt auszuhalten, die Zeit steht still.
Eine ähnliche Erfahrung kann im Kunsthaus zweimal täglich in der Re-inszenierung von „Luminosity 1997“ gemacht werden: eine Person balanciert nackt eine halbe Stunde lang mit ausgestreckten Armen und Beinen auf einem hoch an der Wand montierten Fahrradsattel. Für Abramović sind Handlungen und Positionen, die über einen längeren Zeitraum ausgeführt und ausgehalten werden, der Schlüssel zur Transformation. Die Performances in der Ausstellung werden von Leuten aufgeführt, die vom Marina Abramović Institute gecastet und ausgebildet wurden. Atemlos bleibe ich davor die gesamte Zeit stehen.
„Imponderibilia 1977“ hatte Marina Abramović gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährten Ulay (1943-2020) erstmals in Bologna aufgeführt. Die beiden standen nackt im Eingangsbereich des Museums, einander zugewandt, und die Besucher mussten sich einen Weg durch sie hindurch bahnen. Auch hier stellen eine weibliche und eine männliche Person das Tor zum Museum dar, stehen so dicht zueinander, dass Passierende einer streifenden Berührung nicht ausweichen können. Ich wende mich bewusst dem Mann zu.
„The House with the Ocean Vies 2002” gehört ebenfalls zu Abramovics anspruchsvollsten Langzeitperformances, in denen sie körperliche und geistige Grenzen erforscht. Die Künstlerin lebte zwölf Tage und Nächte lang in der Sean Kelly Gallery in New York. Während dieser Zeit hielt sie sich an selbst auferlegte asketische Regeln, unter anderem nicht zu essen oder zu sprechen sowie dreimal am Tag zu duschen, und all dies in zum Publikum hin offenen Kammern, die ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Badezimmer darstellten, zugänglich nur über Leitern mit Messern als Sprossen. In der Ausstellung erkenne ich das Szenario im Modell wieder, das mir in der letzten Staffel der Serie „Sex and the City“ so eindrücklich begegnete.
Mit ihren "Transitory Objects", die Marina Abramović seit Anfang der 1990er Jahre realisiert, fordert sie das Publikum zur Interaktion, zu Achtsamkeit und Selbsterfahrung auf. Ich nehme das Angebot an, setze mich dem Kraftfeld einer über dem Kopf schwebenden Amethystdruse aus und steige in die kristallenen Patschen. Speziell für Zürich entwickelte die Künstlerin „Decompression Chamber 2024“, einen Ort zum Entspannen mit Digital Detox. Uhr und Handy müssen ins Schließfach, bevor ich mich mit dem Kopfhörer in den Liegestuhl fallen lasse. Solche „Schalldämpfer“ liegen auch bei „Counting the Rice 2014“ bereit, wo für mich beim Separieren von Linsen und Reiskörnern wieder die Zeit stillsteht. „If you want to have full experience, you have to give me your time and I will give you experience.”
Die Ausstellung in Zürich (siehe kultur online) ist eine Kooperation mit der Royal Academy in London, dem Stedelijk Museum in Amsterdam und dem Kunstforum Wien, wo laut aktueller Presseaussendung nun doch die Schau im Oktober gesichert ist. Diese Begegnung mit der Künstlerin werde ich sicher auch nicht auslassen.
Marina Abramović – Two Hearts
27. April bis 23. Juni 2018, Galerie Krinzinger, Wien
Marina Abramović – The Artist is Present
14. März bis 31. Mai 2010, MoMA NYC
Marina Abramović – Retrospektive
25. Oktober 24 bis 16. Februar 25, Kunsthaus Zürich
Marina Abramović – Retrospektive
2. Oktober 25 bis 18. Jänner 2026 Kunstforum Wien