Austern sind kein Luxus

9. April 2012 Kurt Bracharz
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In der Regionalzeitung wurde im Zusammenhang mit der Diskussion um eine "Reichensteuer" mindestens zwei Mal ein Artikel mit dem Bild einer Austern verzehrenden jungen Frau illustriert. Sind denn Austern tatsächlich so teuer? Bei der "Nordsee"-Kette kostet derzeit eine Fines de claires-Auster 1,90 Euro. Das Durchschnittsgewicht des ausgelösten Tieres liegt bei etwa 8 dag (wobei es im Frühjahr eine Zeitlang ungewöhnlich große Austern zum selben Preis gab). Ein Kilogramm Austernfleisch kommt damit auf ca. 24 Euro, ist also erheblich billiger als beispielsweise gutes Steakfleisch oder ein Steinbutt, um zwei andere hochwertige Eiweißlieferanten zum Vergleich heranzuziehen.

Tiefe Fines de claires sind allerdings die preisgünstigsten Austern, die nur in größeren "Nordsee"-Filialen erhältlichen flachen Belons kosten schon das Doppelte, und die als geschmacklich beste Austern geltenden Spéciales Gillardeau, die man bei uns nur in der Gastronomie bekommt, ein Mehrfaches. Dabei sind auch die schlichten Fines de claires-Creuses im Vorjahr wieder teurer geworden, nachdem sie seit 2005 von 1,50 auf 1,80 Euro pro Stück gestiegen waren.

Das ist auch eine Folge des seit 2008 beobachteten Massensterbens von Jungaustern in Frankreich, dessen Ursachen noch immer nicht einwandfrei geklärt sind – neben der landwirtschaftlichen Verschmutzung der meeresnahen Flüsse und der Erhöhung der durchschnittlichen Wassertemperatur durch den Klimawandel wird vor allem ein Herpesvirus als Verursacher betrachtet, das in den 1960er Jahren schon einmal ein Austernmassensterben in Frankreich auslöste. Damals wurden junge Pazifische Felsenaustern aus der japanischen Präfektur Miyagi importiert und weitergezüchtet, eine Möglichkeit, die diesmal nicht besteht, weil der Tsunami vom März 2011 diese im Nordosten von Japan gelegenen Austernzuchten fast vollständig zerstört hat und möglicherweise auch die nach der Atomkatastrophe von Fukushima ausgetretene Radioaktivität sich in den Küstengewässern vor Miyagi bemerkbar macht (was von japanischen Behörden bestritten wird). Eine Auster benötigt drei bis vier Jahre Wachstum, bis sie verzehrt werden kann.

Wenn man bei uns Austern bestellt, werden sie meistens auf Eis serviert, wozu es eigentlich keinen Grund gibt. Wahrscheinlich soll damit ihre relative Frische demonstriert werden, denn aufbewahren muss man diese Muscheln schon auf Eis – essen aber nicht. Jürgen Dollase schrieb dazu im "Feinschmecker" 2/2004, der Fischspezialist Olivier Roellinger habe ihm einmal gesagt, die Auster schmecke bei 37° C am komplexesten. Dollases Fazit nach entsprechenden Versuchen: "Direkt aus dem Kühlschrank schmeckten die Austern zunächst nach wenig, dann gleichbleibend jodig ohne wesentlichen Nachhall. Nach den oft empfohlenen 30 Minuten bei Zimmertemperatur war der Geschmack schon deutlich vielfältiger und entwickelte verschiedene "grüne" Nuancen, zum Beispiel von Algen.

Bei 37 Grad Celsius aber explodierten die Aromen geradezu im Mund. Höchst komplexe Noten von Jod, Meer und Feuerstein entwickelten sich beim Zerkauen, und es gab einen massiven Nachhall wie bei einem sehr guten Wein. Wird die Auster über diese 37 Grad hinaus erwärmt, schmeckt sie zunehmend stumpfer und flacher, bis sie jenseits von 70 Grad deutlich übergart ist."