Auf Einladung von Markus Grabher beschäftigen sich die beteiligten Künstler und Künstlerinnen seit Sommer 2021 mit dem Begriff "Wesen".
Etymologisch betrachtet ist "Wesen" ein substantivierter Infinitiv, der sich im Althochdeutschen vom Verb "wesan" herleitet und sich im Mittelhochdeutschen zum Verb "wesen" wandelt, was gleichbedeutend mit "sein" ist. Noch heute lebt dieses alte Verb in unserer Sprache in den Präteritalformen des Verbes "sein": Ich bin gewesen. Etwas ist verwest.
Philosophisch betrachtet erlebt der Begriff "Wesen" ebenfalls mehrere Bedeutungswandlungen. Vom "ins Auge fallenden", dem "Unwandelbaren und Unauflöslichen" in Aristoteles´ frühen Schriften über die Scholastik, in der "Wesen" als eine begrenzte Möglichkeit zu sein betrachtet wird, die erst durch das Sein in die Wirklichkeit gelangt, über John Locke und David Hume, die das "Wesen" für unerkennbar und für die Erfahrung als folgenlos erklären bis hin zu Max Weber, der vom "Wesentlichen" im Sinne von "Bedeutung" oder "Sinn" spricht, bleibt dieser Begriff umstritten und viel diskutiert.
Für die Künstler und Künstlerinnen dieser Ausstellung blieb der Begriff "Wesen" fesselnd, weil er sich nicht fesseln lässt. Sie waren sich einig, dass das Wesen nicht wirklich fassbar sei und somit flüchtig. Daraus entstanden sieben persönliche Annäherungen, die solchermaßen im Raum geordnet sind, dass der Besucher, die Besucherin von außen auf diese Positionen schaut. Durch diese Blickrichtung erst wird das Gebotene zum Wesentlichen. Durch die Vielfalt der Blicke wird es gleichzeitig unstet. Die Wände bleiben leer; die Sicherheit, die sie böten, bleibt unbespielt.
Menschliches Wesen bedingt sich in der Gegenseitigkeit.
Als Intro zeigt Markus Grabher eine Installation, in der alte Fotografien vom Flohmarkt auf Doppelstegplatten montiert und mit Holzasche bearbeitet sind. Es gibt niemanden mehr, der die Menschen auf diesen Fotos kennt, sie sind ohne Bezug zum Jetzt. Sie schweben, gehalten in Erde. Macht unser Wissen um ihr gewesen sein, ohne Kenntnis von Details, sie schon zu Wesen? Überdauert ihr Wesen Zeit und Raum? Unsere Bereitschaft, Unbekannte und Unbekanntes kennen zu lernen, mache unser Wesen, sagt Grabher.
Das Wesen der Wesen
Gernot Bösch geht in der Weiterführung seiner aus MDF-Platten konstruierten floralen Diamanten – der geschlossenen, der sich öffnenden und der offenen Blüte – nun dem Wesen der Verwesung nach. Aus den gleichen Elementen (Trapeze), aus denen die noch geschlossene Blüte besteht, baut er nun auch die Welkende. Diese Nichtveränderung der grundlegenden Struktur im Wandel des Seins ist Symbol für Unvergänglichkeit der Energie per se. Obwohl das Wesentliche sich nicht ändert, vermag es in seinem gesammelten Ausdruck alle Formen anzunehmen.
Das Wesen der Sprache sei Klang
Dem Wesen der Sprache ist Gabriele Bösch in ihren Tintenzeichnungen auf der Spur. Spinnennetze, Wassertropfen, Schnäbel oder Pflanzen werden auf je ein Zeichen reduziert, das über weite Strecken organisch wiederholt wird, bis sich eine Art Teppich ergibt, in welchem die kleinen Verwerfungen erst das Große und Ganze als solches wirken lassen – den inne liegenden Klang.
Das Wesen als changierendes Konglomerat
In Anlehnung an Hanna Arendt, die die Rahmenbedingung für das menschliche Sein (Verweilen, wesan) das Leben selbst nennt, nähert sich Alice Wellinger dem Begriff Wesen in nächtlichen Skizzen und alltäglichen, kleinen, flüchtigen Zeichnungen, die sie zusammenmontiert und auf Stoff gedruckt als Hängebild präsentiert. Traum, Geburt, Wachstum, Tod – in ihren phantasievollen Zeichnungen ergeben die Themen des Lebens selbst jenes changierende Konglomerat, aus dem sich unser Sein und unser Wesen speist, geprägt durch Gene und Gedanken, Triebe und Träume, Emotionen und Erfahrungen.
Die Natur (Wesen) des Menschen als Fähigkeit zur Transzendenz
Jenseits von möglicher Erfahrung und gegebener Wirklichkeit begibt sich Aurelia Bösch in den Bereich der Transzendenz. Mit Sonnenlicht durchflutete Blätter eines Avocadobaumes hält sie fotografisch fest und seziert sie, indem sie die Bilder in ihre vier Kanäle Cyan, Magenta, Gelb und Schwarz aufteilt und sich nur des Schwarzen bedient. Für das Auge kaum sichtbare Strukturen werden so herausgeschält: die Lebensgefäße des Blattes, die Adern. In diesen klaren Strukturen weist sie weitere selbstähnliche Strukturen der Natur nach – und die Eigenschaft des Menschen, sich als Wesen, das zur Selbsttranszendenz fähig ist, zu erkennen. Wir sind alle eingebettet in Größeres.
Das Wesen als Stoff, der alles durchdringt
In der neuen Physik bildet das Unberechenbare die Grundlage stabiler Naturgesetze. Das Wesentliche, das Grundlegende, das Ursprüngliche, also das Wesen der Dinge bleibt unfassbar. Vielleicht ist das der Stoff, der alles durchdringt. Mit diesem Hintergrund nähert sich Hermann Präg dem Begriff des Wesens: In einem leeren Raum scheinen sich Lichter plastisch zu verformen. Das immaterielle Licht nimmt wechselnde Formen an. Diese entziehen sich aber einer Festlegung, bleiben unantastbar und flüchtig.
Das Wesen der Weiblichkeit – können wir es jenseits der Binarität denken?
Tabea Hampel stellt in einer Videoperformance die binäre Aufteilung in zwei Geschlechter als Grundlage unserer Gesellschaft in Frage. Dazu dreht sie das Ritual der Haarentfernung, welches viele weiblich gelesene Menschen täglich bis wöchentlich vollziehen, um. Anstatt die Haare zu entfernen und somit unsichtbar zu machen, "verpflanzt" sie sie an eine Stelle, an der sie noch besser sichtbar werden, um zu unterstreichen, dass Gender ebenfalls performativ hergestellt und reproduziert wird.
Auf Einladung #05
"annähernd wesentlich"
2. April bis 1o. Juli 2o22
Kurator: Markus Grabher