Auf der Suche nach 0,10

Mit "Auf der Suche nach 0,10 – Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei" feiert die Fondation Beyeler einen der denkwürdigen Momente für die Entwicklung der Gegenwartskunst. Die Ausstellung "0,10" fand im Jahr 1915 in Petrograd (wie der deutschklingende Name der russischen Hauptstadt – St. Petersburg – kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges geändert wurde) statt und sollte sich als eine der bedeutendsten des 20. Jahrhunderts erweisen. Sankt Petersburg wurde zur Wiege der Russischen Avantgarde: Mit "0,10" setzt die Fondation Beyeler nach "Venedig", "Wien 1900", "Surrealismus in Paris" ihre Ausstellungsserie über Städte fort, die für die Entwicklung der modernen Kunst ausschlaggebend waren.

"0,10" markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der modernen Kunst und beschreibt jenen historischen Moment, als Kasimir Malewitsch seine ersten nicht-gegenständlichen Gemälde schuf und Wladimir Tatlin mit seinen revolutionären Konter-Reliefs an die Öffentlichkeit trat. Beide Künstler waren Rivalen und absolut konträr in ihrem kreativen Denken. Die meisten anderen Künstler, die an der ursprünglichen Ausstellung beteiligt waren, werden ebemfalls in der rekonstruierten Version der Fondation Beyeler vertreten sein: Natan Altman, Wassili Kamenski, Iwan Kljun, Michail Menkow, Vera Pestel, Ljubow Popowa, Iwan Puni, Olga Rosanowa, Nadeschda Udalzowa und Marie Vassilieff.

Die ursprüngliche Ausstellung "0,10", die das Künstlerpaar Iwan Puni und Xenia Boguslawskaja organisierte, wurde am 19. Dezember 1915 in Petrograd mit mehr als 150 Werken von rund vierzehn Künstlern der russischen Avantgarde eröffnet, von denen die meisten entweder Parteigänger Malewitschs oder Tatlins waren. Von den rund 150 im Winter 1915-1916 in Petrograd ausgestellten Werken ist heute nur ein Drittel erhalten geblieben. Als Ausstellungsort diente die Galerie von Nadeschda Dobytschina. Sie gilt als erste Galeristin Russlands. Bereits seit 1911 nutzte sie einige Räume ihrer grosszügig dimensionierten Wohnung als Ausstellungsfläche und war innerhalb der Kunstszene wohl bekannt.

Der Titel "0,10" (null-zehn) ist keine mathematische Formel, sondern ein Kode, der auf die Idee von Malewitsch zurückgeführt wird: Die Null sollte die Zerstörung der alten Welt – auch der Welt der Kunst – und zugleich den Neubeginn symbolisieren. Die Zahl 10 geht auf die ursprünglich geplante Zahl der teilnehmenden Künstler zurück. Auch die Worte "letzte futuristische" sind als Kodierung zu verstehen: Damit wollte man zeigen, dass man sich vom Einfluss des italienischen Futurismus nun distanzieren, ja befreien wollte. Es wird klar, in welch rasantem Tempo Stilrichtigen damals einander ablösten: War man Anfang 1915 vom Futurismus noch begeistert, forderte man Ende des Jahres eine Loslösung davon.

Das Umfeld der Ausstellung begleiteten leidenschaftliche Stellungnahmen und stürmische Auseinandersetzungen unter den Teilnehmern. Bei der Planung wurden noch in letzter Minute Änderungen vorgenommen, so wich die finale Teilnehmerzahl doch noch vom Titel ab, da manch einer kurzfristig absprang, wobei andere überraschend hinzukamen. Insgesamt stellten 14 Künstler ihre Arbeiten aus: 7 weibliche und 7 männliche, denn die Ausstellungsmacher bestanden auf Parität der Geschlechter.

Zwei der Ausstellungsteilnehmer ragten mit ihren Arbeiten als Vorboten absolut neuer, radikaler Wege für die Weiterentwicklung der Kunst heraus. Zum einen war es Kasimir Malewitsch, der im Rahmen der Letzten Futuristischen Ausstellung der Malerei 0,10 mit seinen völlig abstrakten, aus geometrischen Figuren bestehenden Gemälden eine bis dahin nicht gekannte Dimension der bildenden Kunst erschloss. Für seine Arbeiten kreierte er den Namen "Suprematismus" (vom lat. supremus = das Höchste), was seine Ansprüche auf die führende Rolle in der Kunst offen legte.

Zum anderen war es Wladimir Tatlin, der mit seinen ebenfalls abstrakten, aus kunstfremden Materialen geschaffenen Skulpturen, neue Lösungen für eine vom klassischen Sockel befreite Skulptur anbot. Auch wenn die ursprüngliche Ausstellung in ihrem Charakter alles andere als einheitlich war – es gab eine grosse Vielfalt an künstlerischen Stilen und ästhetischen Programmen –, so wirkte sie doch wie ein Weckruf, der das Ende des Kubo-Futurismus als vorherrschendem Trend in der russischen Malerei besiegelte und völlig neue Wege des Experimentierens eröffnete. Nach jener Schau avancierten Malewitsch und Tatlin sofort zu den Anführern der europäischen Avantgarde.

Natürlich kann das Projekt der Fondation Beyeler nicht den Anspruch erheben, die Ausstellung von 1915 originalgetreu rekonstruieren zu wollen – viele der damaligen Exponate sind verschollen oder zerstört –, dennoch wird es zahlreiche Originalwerke der ursprünglichen Ausstellung präsentieren, ergänzt um andere zeitgenössische Meisterwerke derselben Künstler, und damit den Besuchern einen ganz konkreten Eindruck von der künstlerischen Energie verschaffen, die im Russland des frühen 20. Jahrhunderts so überreich vorhanden war.


Auf der Suche nach 0,10
Die letzte futuristische Ausstellung der Malerei
4. Oktober 2015 bis 10. Januar 2016