Apparat ESC

Akronyme und Abkürzungen sind zwar in aller Munde, werden aber nicht von allen oder immer richtig verstanden. ESA oder ESTA oder ESC? European Space Commission? Oder Überwachung? European Security Control? Nein, es handelt sich um den „Eurovision Song Contest“, eine Art Sportwettbewerb nationalistischer Ausrichtung, der wegen seiner gemeinschaftlichen Aussendung innerhalb der EBU als „europäisch“ gesehen wird. Die Veranstaltung leistet einen Beitrag für nationale Identität und bietet Ventilationsmöglichkeiten nationalistischer und chauvinistischer Gefühle, ist aber ein Riesengeschäft, weshalb alle mitmachen.

Alle? Nein. Andreas Kümmert macht nicht mit. Das ist nicht irgendwer, sondern jener, der die deutsche Auswahl gewann und dann, zu aller Überraschung, erklärte, er wolle am Contest nicht teilnehmen, er trete zurück. Er gab persönliche Gründe dafür an. Es waren nicht nur die Organisatoren überrascht oder die Zweitplatzierte, die fast automatisch an seine Stelle rückte und gerückt wurde, sondern auch die Publika.

Einige zollten Kümmerts Haltung und Entscheidung Respekt, viele aber waren nicht nur irritiert, sondern wütend, fühlten sich betrogen und ließen sich, vor allem im Internet, im „social web“, zu wüsten Beschimpfungen und Höhnungen hinreißen. Der Musiker, der Musiker ist und nicht primär das gewohnte telegene Aushängeschild und -bild des zeitgemäß Erfolgreichen, meinte eher trocken, ruhig an die Adresse der Scheißer, shitstormler, gerichtet: „Ihr passt alle perfekt in diesen Apparat“. Das ist nun ein bewundernswert einfaches wie treffendes Urteil. Über den Apparat, die Apparatschiks und die Mitmacher, Mitläufer, Hasser, die Masse der geistig Depravierten, der „Tobenden“.

Die Meute, die über ihn herfiel, ist wesentlicher Teil des Systems. Diese Massenmenschen speisen als medialer Mob den Apparat, den Betrieb. Das heizt das Geschäft an. Die Massenmedien nehmen sich der Sache und des Problems an, Gefühle werden hochgeschaukelt und instrumentalisiert, und das Ganze läuft als Kulturbeitrag unter dem Etikett „europäisch“. Der Vorgang belegt auch, einmal mehr, wie wenig es auf den Einzelnen ankommt, als auf seine Rolle im Betrieb. Andreas Kümmert hat seine Rollenerwartung nicht erfüllt. Er hat den Betrieb gestört. Das ist eigentlich unverzeihlich. Das lässt ihn die Mehrheit wissen.

Es braucht nicht viel Phantasie um sich auszumalen oder auszurechnen, wie ein ähnlicher Vorgang sich im Politischen auswirkt. Sport und Popkultur sind nicht unpolitisch. Aber bei wichtigen Fragen, z.B. Klima, Wirtschaft, Finanzen, Krieg oder Frieden oder Appeasement, gerät eine Mobilisierung dieser Art doch gravierender, negativer, als wenn es nur um Shows oder Sport geht. Genau das hat sich festgesetzt, ist zur Übung geworden (der Begriff „eingebürgert“ wäre hier völlig verfehlt!). So wird eine europäische Großveranstaltung nicht zum Zerrbild, sondern zum adäquaten Ausdruck unserer Gesellschaften, des Pseudoeuropas, der Pseudodemokratien, der Pseudos. Vielleicht kennt die Mehrheit den Terminus „pseudo“ nicht oder nur vage, versteht nicht den Begriffskern. Es lohnte, sich des Bedeutungsgehalts zu vergewissern, sozusagen als Bildungsbeitrag, auch in Zeiten einer apparatschikhaften Zentralmatura.