Anne Marie Jehle - Jeder Spießer ein Diktator

Das visionäre Werk der österreichisch-liechtensteinischen Künstlerin Anne Marie Jehle umfasst zahlreiche Medien wie Skulptur und Installation, Malerei, Zeichnung, Fotografie und Text. Im Zentrum steht die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und Machtverhältnissen, insbesondere mit weiblicher Identität und Rollenbildern.

In den 1970er Jahren wurde Jehle international bekannt. Ihr Werk steht im Kontext der feministischen Avantgarde und der Fluxus-Bewegung. Mitte der 1980er Jahre zieht sie sich aus der Öffentlichkeit zurück und ihr künstlerisches Schaffen bricht abrupt ab.

Ihre Fähigkeit, Alltagsgegenstände und persönliche Erfahrungen in ausdrucksstarke Kunstwerke zu verwandeln, macht ihr Werk gerade in der aktuellen Diskussion um Gender und Selbstbestimmung in der Kunst bedeutsam.

Anne Marie Jehle (1937-2000) arbeitete obsessiv und experimentell. Ihr Werk steht in einer Linie mit der feministischen Avantgarde der 1970er Jahre: Die künstlerische Selbstermächtigung stellt sie in den Kontext radikaler Bildhauerinnen wie Louise Bourgeois (1911-2010) oder Alina Szapocznikow (1926-1973), persönliche Erfahrungswelten waren ihnen die größte Inspirationsquelle. Inspiration fand Jehle auch in den Kunstströmungen Neo-Dada, Fluxus, Happening und Konzeptkunst. Subversive Kritik an geschlechtsspezifischen Machtstrukturen durchziehen ihr künstlerisches Werk. Sie ironisierte und parodierte widersprüchliche Rollenbilder im Privaten wie im Globalen. Brillant und mit süffisantem Humor nahm sie den männlich dominierten Kunstbetrieb aufs Korn. Mit Rückgriff auf kunsthistorisch bedeutende Künstler:innen-Persönlichkeiten verhandelte Jehle den Geniekult und das Geschlechterverhältnis.

Das elterliche Haus in Feldkirch war Basis und Zentrum der künstlerischen Produktion, aber auch Rückzugsort von der Außenwelt. 1965 begann sie mit ihrer künstlerischen Arbeit, die sie im Haus ausstellte und aufbewahrte. Das (Un-)Heimische, das Beklemmende im Geborgenen waren Motive, die sich in medialer Vielfalt durch das gesamte Werk zogen und sich teilweise raumfüllend durch das ganze Wohnhaus erstreckten. Das Thema Körper, Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Erotik, aber auch die Auseinandersetzung mit Rollenklischees, Feminismus und persönlicher Identität waren wesentliche Ausgangspunkte ihres Schaffens. Aktiv blieb sie bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihr Leben als Künstlerin aufgab: Mitte der 1980er Jahre zog sie sich aus der Kunstöffentlichkeit zurück. Als radikalen letzten Akt versiegelte sie ihr Wohn- und Atelierhaus, reiste 1989 in die USA und lebte bis 1993 an der Ostküste. Danach kehrte sie aus den USA zurück und lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 in Liechtenstein. Wie die amerikanische Konzept- und Performancekünstlerin Lee Lozano (1930-1999) wandte sie sich bewusst vom Kunstbetrieb ab, um erst nach ihrem Tod wiederentdeckt zu werden.

Jehles künstlerisches Werk ist weitgehend unbekannt, ihr Bekanntheitsgrad reicht kaum über Vorarlberg und Liechtenstein hinaus. Ihr Werk stieß zeitlebens auf Unverständnis. Unbeirrt schuf sie zwischen 1965 und 1989 ein umfangreiches, eigenständiges Werk, das über 1600 Arbeiten umfasst.

Nach ihrem Tod im Jahr 2000 gründeten ihr nahestehende Personen aus dem Familien- und Bekanntenkreis die Anne-Marie-Jehle-Stiftung mit dem Ziel, ihr Werk zu erhalten und bekannt zu machen.

2003 fand die erste Retrospektive im Bildungshaus Batschuns statt, 2009 folgte eine Werkschau im Palais Liechtenstein in Feldkirch und 2013 unter dem Titel "Ich bin daheim" im Frauenmuseum Hittisau. Weitere Gruppenausstellungen zeigten Jehles Werk wiederholt im Kunstmuseum Liechtenstein, bei der 11. Triennale Kleinplastik Fellbach, bei QuadrART Dornbirn, in der Villa Claudia in Feldkirch, im Kunstmuseum Appenzell, in der Galerie Hollenstein in Lustenau auf Initiative des Vorarlberg Museums.

Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigte ihr Werk bereits 2017 und besitzt heute den größten Teil des Nachlasses, der ebenfalls als Schenkung der Anne-Marie-Jehle-Stiftung in die liechtensteinische Museumssammlung eingegangen ist. Ihre Heimatstadt Feldkirch widmete ihr 2009 eine Einzelausstellung im Palais Liechtenstein, Forum für zeitgenössische Kunst. Dagmar Streckel, ehemalige Geschäftsführerin der Anne-Marie-Jehle-Stiftung, Vaduz, hat das umfangreiche Werk aufgearbeitet und betreut es. In der Ostschweiz zeigte Wilma Lock bereits 1977 Objekte und Installationen in der gleichnamigen Galerie.

Anne Marie Jehle
Jeder Spiesser ein Diktator
bis 9. März 2025