Angriff auf das Gesellschaftssystem

Michel Foucault steht am Kremser Kreuzberg und winkt. Er ist fünf Meter groß, Funken stieben aus seinen Armen. Sein Blick ist starr auf den Innenhof der Strafvollzugsanstalt Stein gerichtet, wo Inhaftierte ihren täglichen Runden nachgehen. Einer der Insassen bleibt stehen, putzt sich die Brille und beobachtet Foucault. Ein Gegensatz nach Leopold Kesslers Geschmack: Foucault, Vorreiter des modernen Überwachungsstaates, beobachtet Überwachte und wird dabei beobachtet. Viele Elemente, die Kesslers Arbeit seit Jahren auszeichnen, spielen bei seiner Inszenierung in den Kremser Weinbergen eine Rolle: Voyeurismus, das Infragestellen und Benennen von Klischees und der Aspekt der Grenzüberschreitung.

Bei seiner Ausstellung in der factory Krems, die von 8. November bis 14. Februar zu sehen ist, präsentiert der 33-Jährige Kessler neben "Hofgang mit Foucauld", wie er seine oben beschriebene Arbeit nennt, noch zwei weitere Werke, die erstmals in Österreich zu sehen sind: "Nachbarn" und "Das Leben der Anderen". Auch bei diesen beiden Werken führt Kessler den Betrachter die subtile Absurdität des Normalen vor: Ist es nicht paradox beim Besuch eines ehemals sozialistischen Wohnblocks, dessen Bewohner täglich mit Überwachung von Seiten des Staates gelebt haben, selbst unwissentlich per Überwachungskamera beobachtet zu werden, wie es Kessler in seinem Projekt "Nachbarn" macht ? Oder bei einem Blick über die Grenze die eigenen unterschwelligen Vorurteile so massiv und unverblümt vor Augen geführt zu bekommen, wie es in "Das Leben der Anderen" passiert? (Österreich: Walzer tanzende Schöngeister auf der Terrasse des Barock-Schlosses Hof. Ein Blick über den Grenzfluss March in die Slowakei: Plattenbau im Stil des Sozialismus mit weißen Feinripp-Unterhemden auf der Wäscheleine.)

Leopold Kessler spielt mit dem Betrachter und macht dennoch Ernst. Er führt ihn dorthin, wo es richtig weh tut. Tief ins eigene Unterbewusstsein, wo in jedem von uns meist unbemerkt und oft ganz klein, ein unverschämter Spanner wohnt, der von Klischees, einschränkendem Grenz-Denken und Vorurteilen geleitet wird. Kesslers Arbeiten führen uns diesen kleinen Parasiten vor Augen und klopfen ihm ganz ungeniert auf die Finger. Der 1976 geborene und in Wien lebende Leopold Kessler agiert als Konzeptkünstler, Bildhauer, Videofilmer und Aktionskünstler vornehmlich im öffentlichen Raum. In diesen greift er mittels interventionistischer Aktionen ein, manipuliert scheinbar normale Phänomene und stellt damit Gesetzmäßigkeiten in Frage. Als akribischer Beobachter und Analytiker gesellschaftlicher und soziokultureller Phänomene geht es Kessler um die Infragestellung von Sinnhaftigkeiten diverser Ordnungssystemen und Regelwerke, um Hoheitsbegriffe und damit zusammenhängende Machtmechanismen.

Die fast ausschließlich unangemeldeten Arbeiten, die durchaus im Sinne eines erweiterten Skulpturenbegriffs zu betrachten sind, stellen intelligente Metaphern zu soziopolitischen wie ökonomischen Phänomenologien dar und ermöglichen dadurch Neubetrachtungen geläufiger Weltsichten sowie subtile Sensibilisierungen von Wahrnehmungsmustern bei den Rezipienten. Mit einfachsten Mitteln in Form von Auslöschungen, Markierungen, Reparaturen oder Hinzufügungen untersucht er dabei die Funktionsmechanismen, Reglementierungen und sozialen Prozesse des öffentlichen Lebens an der Schnittstelle zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. In fast unsichtbaren, oftmals parasitären Eingriffen deckt er die Widersprüchlichkeiten von Ordnungssystemen und Machtmechanismen auf ironisch-anarchische Weise auf.

Die dabei verwendete Struktur des absurden Widerspruchs verleiht seinen Eingriffen oftmals eine Aura des Humoresken, die latent auch die Frage nach der Auslotung der Grenzen künstlerischen Handelns aufwirft. Wenn er mit derartigen Mitteln des Grotesken gegen den Konformismus sanft rebelliert, ist man an Filmkomödianten wie die Marx Brothers, Buster Keaton oder Charlie Chaplin erinnert, allesamt zärtliche Anarchisten, die mit ihren Verrücktheiten einen Angriff auf die stabilen, vermeintlich ordentlichen Gesellschaftssysteme unternehmen und dabei die Grenzen der Konventionen immer wieder überschreiten.

Leopold Kessler nimmt seine Rolle als Künstler sehr ernst, von daher rührt auch die Unbedingtheit, mit der er sich (auch körperlich) seinen Aktionen im öffentlichen Raum aussetzt. Mit seiner eigenen Art, bei der subversive Ironie eine nicht unwesentliche Rolle spielt, führt er uns in flüchtigen Augenblicken die Absurdität von Ritualen vor Augen. Kesslers "Auftrag“ scheint die Entmystifizierung und Enttabuisierung von falsch verstandenen Begrifflichkeiten von Staat, seinen Institutionen und Vollzugsorganen zu sein. Seine angewandte Komik lässt uns unmittelbar das Absurde erkennen und weist ihn als rebellischen Clown bzw. als ästhetischen Rebell der Gegenwart aus, der auf hintergründige Weise an den Oberflächen und Wertsystemen der organisierten Gesellschaft kratzt. Durch seine Visualisierungen ermöglicht er ein Freisetzen jener, unter der Oberfläche kultureller Normierungen verborgener, Tiefendimension gesellschaftlicher Phänomene. Ohne Pathos und mahnendem Zeigefinger führt er Systemfehler des Alltags mit beeindruckend puristischen Mitteln vor Augen, nimmt die Bedeutung von Orten und Funktionsweisen von Strukturen ins Visier und transformiert diese in Bilder und Erzählungen mit allegorischen Werten und Metaphern.

Kunst wird bei Kessler nicht zu einer Geste der Repräsentation, sondern zu einem unmittelbaren Medium gesellschaftlichen Lebens, ausgestattet mit einer moralischethischen Funktion. In dem der Künstler den Pakt mit den Konventionen aufkündigt, die Verwerfung eines scheinbar determinierten Ordnungsgefüges proklamiert, bringt er der Gesellschaft ein Stück Autonomie zurück. So gesehen ist Kesslers Arbeit auch ein Plädoyer für eine selbstbestimmte Gesellschaft, die Verhältnisse nicht einfach hinnimmt, sondern scheinbar Etabliertes permanent in Frage stellt.
Hans-Peter Wipplinger

Leopold Kessler
8. November 2009 bis 14. Februar 2010