Als Kitsch noch Kunst war

Das Museum für Kunst und Gewerbe zeigt rund 200 Farbendrucke aus der Zeit vor dem Jugendstil. Der Titel "Als Kitsch noch Kunst war" ist wörtlich zu nehmen: Viele der oft süßlichen Chromolithografien des 19. Jahrhunderts gelten heute als Kitsch, doch sahen die meisten Zeitgenossen in ihnen Kunst und die Möglichkeit das Heim zu schmücken. Der Farbendruck gehörte im 19. Jahrhundert zu den großen innovativen Techniken.

Die Entwicklung im Druckerei- und Verlagswesen zwischen 1840 und 1890 lässt sich durchaus mit der digitalen Revolution von heute vergleichen. Die Verbreitung von Zeitschriften, Büchern und Werbung nahm explosionsartig zu. Überall gab es Bilder, die unterhielten oder über die Welt informierten: in Tageszeitungen, in Schulbüchern, auf Plakatwänden und Verpackungen. Sie zeigten schöne Damen, liebliche Kinder, Märchenillustrationen, Stadt- und Fabrikansichten oder Schiffsbilder. Es gab bunte Menükarten des Berliner Königshauses, Weinetiketten und dekorative Drucke fürs Wohnzimmer.

Kulturkritiker beobachteten diese Entwicklung mit Bedenken. Sie prognostizierten einen Verfall der Sitten in einer solchen "Chromo-Zivilisation". Mit welchem Staunen die Zeitgenossen den Wandel wahrgenommen haben mögen, kann man sich heute kaum noch vergegenwärtigen; eine bilderlose Welt, wie es sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab, ist heute unvorstellbar. Bevor sich um 1890 eine junge Generation von Künstlern wie Henri de Toulouse-Lautrec unter dem Eindruck des Plakats und des hoch geschätzten japanischen Farbholzschnitt an die moderne farbige Künstlergrafik wagten, hatten die rein industriell angefertigten Chromos, wie sie liebevoll genannt werden, den Siegeszug um die Welt angetreten. Die Ausstellung erzählt diese Erfolgsgeschichte. Die ungebremste Erzählfreude vieler Blätter lässt ein farbenfrohes, detailreiches und ungemein erzählfreudiges Bild der rosigen Seiten des Industriezeitalters auferstehen.

1837 meldete Godefroy Engelmann aus Mulhouse die "Chromolithographie" bei der Académie française als Patent an. Er war nicht der erste, der in Farben druckte, doch lieferte er überzeugendere Ergebnisse als seine Vorgänger. Engelmann behauptete ernsthaft, mit seinen farbigen Lithografien könne er dem Gemälde Konkurrenz machen. Eine Behauptung, die damals an Größenwahn grenzte – doch sollte es keine zwei Jahrzehnte dauern, bis die Drucktechnik so ausgereift war und die Auflagen so hoch, dass sich fast jede Familie ein buntes Bild über dem Sofa leisten konnte. Vor allem Druckereien in Deutschland, aber auch in Frankreich, England und nach 1880 besonders auch in den USA sollten das international agierende Gewerbe dominieren. Neben der Chromolithografie wurden auch Holzschnitte – beziehungsweise in Stirnholz geschnittene Holzstiche – farbig gedruckt. Immer wieder gab es Bemühungen, auch Fotos farbig zu vervielfältigen, doch scheiterten im Grunde genommen alle Versuche bis zur Einführung der farbigen Autotypie kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert.

In welchen Formen erreichten die bunten Bilder den Betrachter? Wer es sich leisten konnte, abonnierte illustrierte Zeitschriften, seit etwa 1870 waren sie immer häufig auch farbig bebildert. Früher als andere Bereiche erhielten Kinderbücher farbige Illustrationen. Durchaus namhafte Künstler wie der präraffaelitische Maler Walter Crane oder die bedeutende Zeichnerin Kate Greenaway lieferten die Vorlagen für international vertriebene Kinderbücher. Dann gab es, seit den 1880er Jahren in rasant wachsender Zahl, die so genannten Sammelbilder. Das waren kleine Bildchen im Format von Spielkarten, die den Verpackungen von Lebensmitteln beilagen. Die ursprünglich belgische Firma Liebig, ein Hersteller von Fleischextrakt, hatte damit so großen Erfolg, dass Sammelbilder allgemein auch als Liebig-Bilder bezeichnet werden. Die Sammelbilder von Liebig selbst wurden in Detmold gedruckt, doch der Firmensitz war London. Das Fleisch wiederum kam aus Uruguay und die Verpackungen wurden mit den Sammelbildern in ganz Europa gekauft – dies nur, um zu zeigen, wie international verflochten das Wirtschaftsleben bereits damals war.

Eine interessante Bildform, die gemeinsam mit dem Farbendruck um die Mitte des 19. Jahrhunderts groß wurde, war der so genannte "Wandbilddruck", der Vorläufer des heutigen "Posters" oder Schmuckplakates. Wandbilddrucke wurden besonders sorgfältig ausgeführt und boten Themen für jeden Geschmack. Das reichte von Marienbildern bis zu Landschaften, von Porträts der Queen oder des Kaisers bis zu dekorativen Blumen oder spielenden Kindern und Katzen. Die heute geradezu als Inbegriff des Kitsches geltenden, süßlichen Schutzengel-Darstellungen kamen allerdings erst nach 1900 auf. Dafür gab es Schiffe, die anlässlich ihres Stapellaufs, oder große Firmengebäude, die zu ihrer Einweihung in repräsentativem Format als Chromolithografie gedruckt wurden. Sie schmückten gleichermaßen Chefetagen und Verkaufsstellen.

Eine immer wichtigere Rolle in der ausufernden Bilderwelt spielten im letzten Drittel des Jahrhunderts die Plakate. Zunächst waren anspruchsvoller gedruckte Bildplakate selten. Im Format entsprachen sie bis in die 1890er Jahre hinein den Wandbilddrucken – das heißt sie waren in der Regel 50-70 cm breit – und wurden auch wie diese fast ausschließlich im Innenraum gehängt. Plakate, die in leuchtend hellen Farben für den Straßenanschlag gedacht waren, kamen erst mit dem Jugendstil nach 1890 auf. In der Frühzeit des Plakates dominierten die traditionellen Chromolithografien, deren Oberflächen nicht wetterfest waren und die daher mit Gemälden und Wandbilddrucken als Dekoration im Raum konkurrieren mussten. Entsprechen sorgfältig und voller Details wurden sie entworfen. Um trotz des kleinen Formates aufzufallen, wählte man oft humorvolle, mitunter auch absurde Motive, und nicht selten kam es zu unfreiwilliger Komik. So segelt beispielsweise auf einem Prager Plakat eine Weltkugel über dem Meer, darauf sitzt ein Indianer, der ein Klavier auf den Schultern trägt. Das sollte kundtun, dass die Piano-Fabrik Stingl in alle Welt exportiert. Die Werbung lag noch in den Kinderschuhen, und Strategien, wie wir sie von heute kennen, mussten erst entwickelt werden.

Ein letztes Kapitel ist dem künstlerischen Farbendruck gewidmet. Er setzte dort ein, wo die Ausstellung eigentlich aufhört: in den Jahren um 1890. Der Erfolg des industriellen Bilderdrucks hatte bewirkt, dass die führenden Künstler im 19. Jahrhundert sich von der Druckgrafik fernhielten. Lediglich die sogenannten Maler-Radierer schufen seit den 1860er Jahren in Kleinstauflagen Radierungen, einfarbig und individuell gezeichnet. Der Farbendruck war unter Künstlern völlig verpönt, galt er doch als rein industrielle Massenware. Erst um 1890 wagte sich eine junge Generation von Künstlern, unter dem Eindruck des Plakats, aber auch unter Berufung auf den hoch geschätzten japanischen Farbholzschnitt, an die farbige Grafik. Toulouse-Lautrec und seine Zeitgenossen leiteten damit die moderne Künstlergrafik ein. Zuvor aber hatten Chromos, wie sie manchmal liebevoll genannt werden, einen Siegeszug um die Welt angetreten. Ein Vertreter des amerikanischen Lithografen-Verbandes sagte 1893 in New York: "Innerhalb weniger Jahrzehnte erhob sich der öffentliche Geschmack aus der Missachtung des Schönen (...) und schätzt nun die dekorativen Angebote, die eine großzügige Industrie so günstig gemacht hat, dass sie in die Reichweite Aller kamen, um ihr Heim zu verschönern. Die deprimierende Monotonie leerer Wände hat hellen Farben Platz gemacht. (...) Es gibt keinen Ort mehr, arm oder reich, wo man keine Bilder sieht."

Die Ausstellung erzählt diese Erfolgsgeschichte in anschaulichen Beispielen. Die meisten Drucke, die damals in großen Auflagen erschienen, sind heute äußerst selten, und es gibt wahrscheinlich kein zweites Museum, das diese Geschichte ähnlich ausbreiten könnte. Umso wichtiger ist es, diesen Bestand bekannt zu machen, ihn zu veröffentlichen und damit einen gleichermaßen interessanten wie unterhaltenden – und auch bedeutsamen – Teil der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts wieder ans Licht zu holen. Die ungebremste Erzählfreude vieler Blätter lässt die rosigen Seiten des Industriezeitalters auferstehen.

Katalog: Zur Ausstellung erscheint der Katalog "Als Kitsch noch Kunst war. Farbendruck im 19. Jahrhundert" von Jürgen Döring im Deutschen Kunstverlag, hrsg. vom Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, 128 Seiten, ca. 200 farbige Abbildungen, 24,90 Euro

Als Kitsch noch Kunst war
Farbendruck im 19. Jahrhundert
11. Januar bis 17. März 2013