Alles gerettet!

22. April 2019 admin
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Unter den ersten Fernsehbildern nach dem Brand von Notre-Dame waren drei der geretteten „Schätze“ aus der Schatzkammer zu sehen: Dornenkrone, Holzsplitter vom Kreuz Christi und ein Nagel derselben Provenienz. Der Schadensachverständige Michel Honore, der den Domschatz im Auftrag der Versicherer begutachtete, sagte: „Zu den ersten Stücken, die gerettet wurden, gehörten die Dornenkrone und der Nagel vom Kreuz. Sie standen ganz oben auf der Liste und wurden vorschriftsmäßig vorrangig herausgebracht.“ Die Dornenkrone war 1238 eine Erwerbung Ludwigs IX. von Frankreich (1214 – 1270). Sie hatte für ihn politische Bedeutung: Dank ihrem Besitz sah er sich als Nachfolger der byzantinischen Kaiser und wichtigsten europäischen Herrscher. Zu ihrer angemessenen Aufbewahrung ließ er die Sainte-Chapelle in Paris erbauen, in der später weitere Passionsreliquien wie Kreuzpartikel, Schwamm und Lanze untergebracht wurden. Die durch Zusätze vollständig erhalten aussehende Dornenkrone wurde seit Napoleons Herrschaft in Notre-Dame aufbewahrt und einmal im Monat den Gläubigen gezeigt.

Wenn diese Reliquien dem Feuer zum Opfer gefallen wären, hätte sich durchaus Ersatz finden lassen. Es gibt nur ganz wenige nur einmal vorhandene Jesus-Reliquien, zum Beispiel die Sandalen Jesu in Prüm oder die Träne von Vendôme, die Jesus angesichts des Todes von Lazarus geweint hat und die ein Engel auffing und über Maria Magdalena der Nachwelt zukommen ließ. Schon Jesu Nabel ist dreifach vorhanden (Rom, Clermont und Châlons-en-Champagne), seine Vorhaut wurde früher in mehr als einem Dutzend Kirchen gezeigt. Andere Reliquien gibt es überreichlich, über die Holzsplitter vom Kreuz sagte der Reformator Calvin, mit den gesammelten Kreuzpartikeln könne man ein ganzes Schiff beladen.

Auch wenn die Dornenkrone von Notre-Dame verbrannt wäre, hätte man sie durch Wiederbelebung der deutsch-französischen Freundschaft neu bilden können. Splitter, Dornen und andere Teile der Dornenkrone finden sich zum Beispiel in Andechs, Halle an der Saale, Wittenberg und an vielen anderen deutschen Orten, und es gibt ja auch die Technik der Berührungsreliquie: die Kraft der Reliquie – anderswo als „mana“ bezeichnet – überträgt sich bei Berührung auf ein anderes Objekt. Es könnten also alle Dornenkronen und –teile unserer Tage durch Berührung mit der ältesten bekannten Dornenkrone entstanden sein, jener, die Nikolaus Mesarites um 1200 in seinem Verzeichnis des Schatzes der Palastkapelle von Konstantinopel so beschrieb: „Erstens ist hier die Dornenkrone zur Verehrung ausgestellt, noch frisch und grün und unversehrt, da sie teilhatte an der Unvergänglichkeit durch die Berührung des Hauptes des Herrn Christus.“

In der wunderbaren Welt des Katholizismus gibt es viele Möglichkeiten der Auferstehung, jedenfalls für Reliquien.