Ali Cherri - Die Vorstellungskraft als Quelle politischen Wandels

Ali Cherris Filme, Skulpturen, Installationen und Zeichnungen zeigen, dass Geschichte und kulturelle Werte weder neutral noch universell sind. Sie sind vielmehr konstruierte Erzählungen, die tief von Kolonialismus, Nationalismus und Geopolitik geprägt sind.

Cherri wurde 1976 in Beirut geboren, ein Jahr nach dem Ausbruch des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990), der noch 14 Jahre andauern sollte. 120.000 Menschen starben, fast eine Million war auf der Flucht. Auf der anderen Seite erlebte Cherri, der zunächst eine Ausbildung zum Grafikdesigner absolvierte, die vitale Kunstszene, die in den 1990er Jahren in Beirut aufblühte. So ist nicht nur die konzeptuelle und materielle Auseinandersetzung mit Gewalt, sondern auch der Glaube an die Vorstellungskraft als Quelle politischer Veränderung zentral für sein Werk. Dementsprechend steht die Skulptur "Tree of Life" (2024) nun im Foyer der Secession. Sie ist Cherris erste Arbeit in Bronze und basiert auf einem mesopotamischen Relief aus der Zeit Sargons (24.-23. Jh. v. Chr.) im Pariser Louvre. Der Baum des Lebens, der in der Bibel, im Koran und im Gilgamesch-Epos vorkommt, steht als hoffnungsvolles Symbol des Lebens und der Schöpfung am Anfang der Ausstellung.

Mythologie und Frühgeschichte sowie das Nachleben kultureller Artefakte spielen eine Schlüsselrolle in der Praxis des Künstlers, der in Auktionshäusern und auf Antiquitätenmärkten nach archäologischen Fundstücken sucht. "Viele dieser Objekte", so Cherri, "sind buchstäblich zerbrochen, und ich sehe darin eine Möglichkeit, auf poetische Weise Solidarität mit anderen gebrochenen Körpern herzustellen. Wir leben heute alle mit inneren Brüchen und suchen deshalb den Kontakt zu anderen Menschen und Gemeinschaften, die Ähnliches erlebt haben, um von ihnen zu lernen und uns in sie einzufühlen". Durch die Einbettung dieser Fragmente in hybride, kreatürliche Skulpturen, die eine surreale Energie ausstrahlen, konfrontiert Cherri westliche Sammlungen mit dem Vergessenen, Ausgeschlossenen oder Verdrängten. Indem sie hinterfragt, was sichtbar ist und was verborgen bleibt, rühren seine Arbeiten an den Grundfesten westlicher Museumspraktiken und ihrer Macht, den offiziellen Kanon und Diskurs durch koloniale Politiken des Sammelns und Kontextualisierens zu formen.

Politische Implikationen zeigen sich in Cherris Arbeiten nicht nur auf symbolischer Ebene, sondern auch in der Wahl der künstlerischen Materialien selbst. Sein besonderes Interesse gilt dem Lehm, der als Urmaterial der Zivilisation seit jeher zur Herstellung von Waren, Kunst- und Kultgegenständen verwendet wird. Erst seit kurzem arbeitet er auch in Bronze. Diese wird vor allem von den herrschenden Klassen für "Heldendenkmäler" verwendet, die die Stärke und Überlegenheit der Machthaber verkörpern sollen. Durch die Kombination dieser gegensätzlichen Materialien in einer neuen Werkserie stellt der Künstler die traditionelle Machtdynamik auf den Kopf: Die Feuchtigkeit, die der fragile, "niedere" Lehm absondert, greift die „hegemoniale“, beständige Bronze an und schwächt sie - eine Form der Rückforderung von Macht.

Mit der Installation von zwei holzverkleideten Vitrinen im ersten Raum der Ausstellung eignet sich Cherri bewusst museales Vokabular an. Typische Spots archäologischer Museumsgalerien beleuchten verkleinerte Podeste von Denkmälern, die beispielsweise während des Arabischen Frühlings 2011, in Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder während der Black Lives Matter-Bewegung mutwillig beschädigt wurden. Die Leerstellen auf den nun verlassenen Podesten stehen durch den Umsturz ihrer Monumente symbolisch für die Entmachtung brutaler Regime, aber auch für die Möglichkeit, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Die neue Diaprojektion "A Monument to Subtle Rot" (2024) bildet eine Art Soundtrack zur Ausstellung. Poetische Reflexionen des palästinensischen Schriftstellers Karim Kattan über das Wesen von Denkmälern werden in Form von Text-Bildern zusammen mit Bildern der Demontage von Denkmälern gezeigt. Manchmal scheint es, als sprächen die Denkmäler selbst, manchmal scheint es die Stimme eines Zeitzeugen zu sein - oder unsere eigene.

Im letzten Raum ist Cherris gefeierte Dreikanal-Videoinstallation "Of Men and Gods and Mud" (2022) zu sehen, für die er auf der 59. Biennale von Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde. Der Film wurde am Merowe-Damm gedreht, der den Nil im Nordsudan aufstaut. Durch den Bau des größten Wasserkraftwerks Afrikas wurden Anfang der 2000er Jahre 50.000 Menschen vertrieben, es kam zu sozialen Unruhen, Ökosysteme wurden zerstört, Kulturstätten und Artefakte versanken in den Fluten. Der Film begleitet eine Gruppe von Ziegelmachern, die in Handarbeit aus Lehm das elementare Baumaterial herstellen. Auch hier gehen Zerstörung und Schöpfung Hand in Hand und werfen die Frage auf, wie aus dem Schlamm der Vergangenheit eine neue Welt entstehen kann.

Ali Cherri wurde 1976 in Beirut geboren und lebt und arbeitet in Paris. Seine Arbeiten, die Film, Performance, Skulptur, Zeichnung und Installation umfassen, sind sowohl von archäologischen Artefakten als auch von der natürlichen Welt inspiriert und erforschen die zeitlichen Verschiebungen zwischen antiken Zivilisationen und zeitgenössischen Gesellschaften. Ausgehend von Artefakten untersucht er die Grenzen von Ideologien, die das Fundament von Nationen und den Mythos des nationalen Fortschritts untermauern. Seine Arbeit befasst sich mit den Beziehungen zwischen Archäologie, historischer Erzählung und kulturellem Erbe sowie mit den Prozessen der Ausgrabung und Verlagerung von Kulturgütern in Museen. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen Geografien der Gewalt in seinem Heimatland Libanon, aber auch in der gesamten Region, hinterfragt er die Art und Weise, wie sich politische Gewalt in den Körpern der Menschen und in der physischen und kulturellen Landschaft ausbreitet.

Ali Cherri
How I Am Monument
bis 23. Februar 2025
Kuratiert von Jeanette Pacher