71. Locarno Festival: Starker Wettbewerb, Problemkind Piazza

Klare Konturen hat Carlo Chatrian in seiner sechsjährigen Amtszeit als künstlerischer Leiter dem Wettbewerb des Locarno Festivals verpasst, starke Retrospektiven geboten, doch die Piazza überzeugend zu programmieren, gelang ihm auch heuer nicht.

Schwere Brocken in Serie setzte Carlo Chatrian am Beginn seiner Leitung dem Publikum im Wettbewerb vor, doch zunehmend zugänglicher wurde die Auswahl in den letzten Jahren. Statt sperriger Filmkunst dominierte heuer weitgehend klassisches Erzählkino das Rennen um den Goldenen Leoparden.

Ausufernd mag da zwar Mariano Llinás in "La Flor" über 14 Stunden fabulieren, doch im Grunde bietet er zwar ein überlanges, aber aber doch konventionelles Spiel mit dem Genrekino, entwickelt eine klassische B-Horror-Story oder über etwa sechs Stunden hinweg einen Agentenfilm, in den der Erzähler immer wieder neue Geschichten von toughen Agentinnen einbaut. Von den Vorbildern unterscheidet sich diese Hommage ans Kino fast nur dadurch, dass hier die Geschichten mehr oder weniger überhöht und nicht zu Ende erzählt werden, sondern abrupt abbrechen.

Nicht alles konnte im Wettbewerb überzeugen, speziell der Schweizer Beitrag "Glaubenberg" enttäuschte, aber die Vielfalt sorgte für spannende Festivaltage, einzig ein herausragendes Meisterwerk fehlte.

Gut positioniert hinterlässt Carlo Chatrian so den Wettbewerb. Wie einen Messias erwartet ihn folglich speziell die deutsche Presse als Nachfolger des viel gescholtenen Berlinale-Direktors Dieter Kosslick und erhofft sich vom Turiner, dass er das in den letzten Jahren wenig überzeugende große deutsche Festival ab 2020 wieder in eine Spitzenposition manövriert.

So überzeugend Chatrian aber auch insgesamt den Wettbewerb in Locarno programmiert hat, so spannende Retrospektiven er mit dem deutschen Nachkriegskino oder Leo McCarey in den letzten Jahren organisiert hat, so zeigt sich doch, dass auch er von äußeren Zwängen abhängt. Auch er muss letztlich wohl nehmen, was zu bekommen war und nicht nur die Italiener scheinen ihre starken Filme lieber an das in drei Wochen startende Festival von Venedig zu schicken.

Gilt das auch für die Schweizer? - Was die Gründe für die jeweilige Programmierung sind, lässt sich von außen schwer beurteilen, auffallend ist aber doch, dass letztes Jahr in Locarno der enttäuschende "Goliath" lief, während Lisa Brühlmanns aufregender "Blue My Mind" in San Sebastian seine Premiere feierte. Auch heuer war das Gastgeberland mit Thomas Imbachs „Glaubenberg“ im Wettbewerb schwach vertreten, offen ist freilich derzeit, ob Hannes Baumgartners "Der Läufer", der wie letztes Jahr Brühlmanns Debüt in San Sebastian Premiere feiern wird, die bessere Wahl gewesen wäre.

Statt fast nur auf Weltpremieren zu setzen, wäre es vielleicht doch besser sich vermehrt mit internationalen Premieren wirklich starker Filme wie heuer von "Diane" zufrieden zu geben. Und stärker müsste man wohl auch den Internationalen Wettbewerb vom ursprünglich eher fürs experimentelle Kino gedachten "Cineasti del presente" abgrenzen. Austauschbar scheinen die Filme teilweise und Antoine Russbachs ganz linear erzähltes, aber starkes Debüt "Ceux qui travaillent", in dem der großartige Olivier Gourmet als Angestellter brilliert, der mit einer Entscheidung beruflich und privat ins Abseits driftet, hätte durchaus auch den Internationalen Wettbewerb bereichert.

Noch schwieriger als beim Wettbewerb scheint freilich die Programmierung der Piazza. Großes Kino für ein großes Publikum sollte hier geboten werden. Als Weltpremiere scheint man dabei aber nur kleine Filme zu bekommen, denn die Coens, Olivier Assayas, Florian Henckel von Donnersmarck und Co. schicken ihre neuen Filme nun mal lieber an den Lido von Venedig.

Für Highlights konnten folglich hier heuer mit Spike Lees "BlacKkKlansman" und "Pájaros de verano", in dem Ciro Guerra und Cristina Gallego kraftvoll und mitreißend vom Beginn des kolumbianischen Drogenhandels und dem Verlust der indigenen Traditionen erzählen, einzig zwei Filme sorgen, die schon in Cannes auf große Beachtung stießen. Sind freilich keine starken Filme für Weltpremieren zu bekommen, sollte man sich doch überlegen, ob man nicht vermehrt auf solche großen Filme anderer Festivals zurückgreift, wie man das schon vor Jahrzehnten in Locarno machte und wie es heute San Sebastian, ebenfalls ein A-Festival, in der Reihe "Pearls" oder auch die Viennale praktizieren. – Dass das Publikum mehr an solchem großen Kino als an Weltpremieren interessiert ist, zeigt sich ja auch daran, dass der Publikumspreis heuer an "BlacKkKlansman" ging.

Auch könnte man wohl den einen oder anderen Film der Retrospektive oder der Hommagen als Hauptfilm auf der Piazza zeigen. "Good Morning Babilonia" von den Taviani-Brüder hätte in dieser prächtigen Freilichtarena trotz seiner 31 Jahre sicher mehr begeistern können als beispielsweise Sandra Nettelbecks Ensemblefilm "Was uns nicht umbringt".

Mehr Vergnügen als die bescheidene italienische Komödie "Un nemico che ti vuole bene" hätten wohl auch Leo McCareys "The Awful Truth" oder "Duck Soup" verbreitet, mehr bewegt als Bettina Oberlis flott erzähltes, aber in der Handlung und in der Personenzeichnung holzschnittartiges Melodram "Le vent tourne" hätte wohl eines von McCareys klassischen Melodramen wie "Make Way for Tomorrow" oder "Love Affair".

Trotz der durchaus erfolgreichen Amtszeit von Carlo Chatrian gibt es somit für den Nachfolger oder die Nachfolgerin, der oder die demnächst bestellt werden muss, einiges zu tun. – Immerhin ist der Termin fürs nächste Festival schon fixiert (7. bis 17. August 2019), während Carlo Chatrian neueste Meldungen aus Hollywood schon diesbezüglich für seine Berlinale 2020 Kopfzerbrechen bereiten dürften: Die Oscarverleihung wurde nämlich für 2020 um zwei Wochen vorverlegt und fällt mit 9. Februar mitten in die traditionelle Berlinale-Zeit – eine Überschneidung, die für das deutsche Festival sicher nicht akzeptabel ist.