70. Locarno Festival: Weltpremieren statt magische Kinoerlebnisse

Mangelnde Vielfalt kann man weder dem heurigen Wettbewerb noch dem Piazza-Programm vorwerfen, doch echte Highlights fehlten weitgehend. Filmgenuss pur bot aber wieder einmal die Retrospektive, die heuer dem Amerikaner Jacques Tourneur gewidmet war.

Breit gestreut war die Bandbreite des heurigen Wettbewerbs. Vom klassischen US-Indie "Lucky" bis zum Überwachungskamera-Film "Dragonfly Eyes" und vom Spiel mit Genres in "Madame Hyde", "9 Doigts" und "As boas maneiras" bis zu vier Dokumentarfilmen reichte das Spektrum. Abwechslungsreich macht diese Vielfalt den Wettbewerb, gleichzeitig scheint Carlo Chatrian, der in den ersten Jahren seiner künstlerischen Leitung dem Publikum noch zahlreiche sperrige oder auch überlange Filme zumutete (2013, 2014), diesen zunehmend zugänglicher zu programmieren.

Mangelware bildeten aber wirklich herausragende Produktionen, zudem beeinträchtigte den Gesamteindruck, dass nach starkem Beginn das Niveau in der zweiten Festivalhälfte doch abflaute. Erschwert wird die Programmierung freilich auch dadurch, dass unterschiedlichste Interessen berücksichtigt werden müssen. Auf einen Schweizer Film im Wettbewerb kann Locarno kaum verzichten, auch wenn mit keine starke Produktion zur Verfügung steht ("Goliath") und auch den Gästen aus dem nahen Italien will man mit einer italienischen Produktion ein Zuckerl bieten, auch wenn längst bekannt ist, dass das in knapp drei Wochen startende Filmfestival Venedig nicht nur die besten Italiener dem Tessiner Festival wegschnappt.

Unverständlich bleibt allerdings, wieso die schwache Jugendgeschichte "Gli asteroidi" im Wettbewerb, Andrea Magnanis sehr unterhaltsames lakonisches Roadmovie "Easy", in dem ein Italiener eine Odyssee erlebt, als er eine Leiche in die Ukraine überstellen muss, aber im Parallelwettbewerb "Cineasti del presente" lief. Irritierend war in Bezug auf "Easy" auch die räumliche Programmierung: Fand bei allen anderen Filmen des Concorso internazionale die erste öffentliche Vorstellung im großen Saal des Fevi statt, so verlegte man Ben Russells 140-minütigen Bergbau-Dokumentarfilm "Good Luck" in den kleineren "Sala", um im Fevi "Easy" zeigen zu können.

Zudem stellt sich angesichts von "Easy" die Frage nach dem Profil der Sektion "Cineasti del Presente". Zwar handelt es sich um einen Erstlingsfilm, aber "durch eine ebenso persönliche wie außergewöhnliche Weltsicht", die laut Katalog die Filme dieser Sektion kennzeichnen sollen, findet man hier kaum. Austauschbar wirken die Filme des Concorso und der Cineasti teilweise, das Profil der einzelnen Sektionen zu schärfen und sie stärker voneinander abzugrenzen wäre dringend notwendig.

Dies gilt auch für das Programm der Piazza, das die Hauptattraktion für das große Publikum darstellen soll. Große Kinoerlebnisse wurden hier heuer kaum geboten, wohl nicht zuletzt deshalb, weil auch hier strategische Überlegungen bei der Programmierung mitspielen. Mediale Präsenz in deutschen Medien sichert man sich mit den Weltpremieren von Jan Zabeils "Drei Zinnen" oder noch mehr mit Felix Randaus Ötzi-Film "Iceman", dem italienischen Publikum bietet man etwas mit Francesca Comencinis Komödie "Amori che non sanno stare al mondo", für Action-Fans programmiert man den für diesen Ort zu brutalen "Atomic Blonde" und anlässlich der Verleihung des Raimondo Rezzonico Preises an den Produzenten Michael Merkt wird die von ihm produzierte tragische Liebesgeschichte "The Song of Scorpions" gezeigt.

Seltsamerweise nicht auf der Piazza, sondern im neuen Kino PalaCinema lief andererseits Todd Haynes "Wonderstruck", obwohl der Amerikaner am gleichen Abend mit dem Pardo d´onore ausgezeichnet wurde. Mag diese Kindergeschichte auch nicht der beste Film von Haynes sein, so ist dies doch in jeder Szene und jeder Einstellung eine Demonstration großer Kinokunst und ein Film, der einen wie kein zweiter in Locarno staunen ließ.

Solche magischen Kinoerlebnisse bräuchten Piazza und Wettbewerb, selbst behindert sich das Festival dabei allerdings mit der Fokussierung auf Weltpremieren. Lieber sähe man im Wettbewerb doch so starke und nachhaltig wirkende Filme wie vor zwei Jahren den israelischen Beitrag "Tikkun", auch wenn er schon zuvor beim Jerusalem Filmfestival lief, als 14 Weltpremieren von Filmen, die kurz nach dem Festival schon wieder vergessen sind.

Und auch auf der Piazza zeigt der Publikumspreis für Michael Showalters seit der Premiere beim Sundance Festival im Jänner gefeierte romantische Komödie "The Big Sick", dass nicht um jeden Preis brandneue, aber unbedingt mehr begeisternde Filme, die für unvergessliche Kinoabende sorgen, programmiert werden sollten.

Sicherer Hafen für Kinogenuss pur war so auch heuer wieder die Retrospektive, die Jacques Tourneur gewidmet war. Da konnte man nicht nur Klassiker wie "The Leopard Man", "Cat People" oder "Out of the Past" nochmals sehen, sondern auch unbekanntere Werke wie den Krimi "Nightfall" entdecken.