70. Filmfestival von Locarno

Unter das Motto "Kontinuität und Innovation" stellt der künstlerische Leiter Carlo Chatrian die Jubiläumsausgabe des größten unter den kleinen oder des kleinsten unter den großen Filmfestivals (2.-12.8. 2017). Eine bunte Mischung bietet das Piazza-Programm ebenso wie der Wettbewerb, in dem nicht weniger als vier Dokumentarfilme laufen. Die Retrospektive ist dem 1977 verstorbenen Amerikaner Jacques Tourneur gewidmet.

Nicht nur neue und renovierte Kinosäle werden anlässlich des Jubiläums eines der ältesten Filmfestivals der Welt eröffnet, sondern neue Akzente werden auch mit Gesprächsrunden ("Locarno Talks") gesetzt, bei denen namhafte Persönlichkeiten wie der Astrophysiker Ben Moore, die Sängerin Peaches und die frühere Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs der UNO für Ex-Jugoslawien Carla del Ponte über das Thema "Heimat" diskutieren werden. Neu ist auch, dass man das Publikum von morgen mit einem speziellen Kinderprogramm ("Locarno Kids") für das Festival begeistern will sowie ein digitaler Wettbewerb (#movieofmylife).

Eröffnet wird das Festival mit der Weltpremiere von Noémie Lvovskys "Demain et tous les autres jours", zu der mit Hauptdarsteller Mathieu Amalric auch gleich ein Star am Lago Maggiore erwartet wird. Einzige große US-Produktion im Piazza-Programm ist David Leitchs Action-Thriller "Atomic Blonde", zu dessen Aufführung ebenso Hauptdarstellerin Charlize Theron ins Tessin kommen soll wie zur Weltpremiere von Tommy Wirkolas Science-Fiction-Film "What Happened to Monday?" Glenn Close und Willem Dafoe.

Im Gegensatz zu diesen Uraufführungen kommt Ben und Joshua Safdies Krimidrama "Good Time" schon mit viel Kritikerlob vom Filmfestival in Cannes, während Michael Showalters romantische Komödie "The Big Sick" in den USA seit ihrer Uraufführung beim Sundance Festival im Januar gefeiert wird.

Auch das deutschsprachige Kino fehlt auf der Piazza Grande nicht. Gespannt sein darf man hier auf Felix Randaus Aufarbeitung der Geschichte des "Ötzi" in dem weitgehend dialoglosen "Iceman", in dem Jürgen Vogel die Hauptrolle spielt. Randaus dritter Kinofilm wurde ebenso teilweise in Südtirol gedreht wie "Drei Zinnen", in dem Jan Zabeil Familiendrama und Bergsteigerfilm zu verbinden scheint.

Die Schweiz ist in diesem viel beachteten Rahmen mit den Weltpremieren von Anup Singhs "The Song of Scorpions" sowie als Abschlussfilm mit dem Dokumentarfilm "Gotthard – One Life, One Soul" vertreten, in dem Kevin Merz ein Porträt der Tessiner Rockband zeichnet, die einst selbst in Locarno auf der Piazza Grande debütierte.

Für Horror zu mitternächtlicher Stunde wird nicht nur Jacques Tourneurs Klassiker "I Walked With a Zombie" sorgen, sondern auch Hélène Cattets und Bruno Forzanis "Laisser bronzer les cadavres". Schon mit "Amer" hat das Regie-Duo seine stilistische Meisterschaft demonstriert, sich im folgenden "L´étrange couleurs des larmes de ton corps", der 2013 im Wettbewerb von Locarno lief, allerdings in einer inhaltslosen Stilübung verloren.

Komplettiert wird das Piazza-Programm von mehreren bislang eher unbekannten Regisseuren, aber auch "Sicilia!" von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet wird anlässlich der Verleihung des Ehrenleoparden an Straub in diesem vielleicht schönsten Open-Air-Kino der Welt gezeigt werden.

14 Weltpremieren und drei internationale Premieren bietet der Wettbewerb. Die Schweiz ist im Rennen um den Goldenen Leoparden mit Dominik Lochers zweitem Spielfilm "Goliath" sowie mit dem Dokumentarfilm "Ta peau si lisse" des Kanadiers Denis Côté vertreten. Auffallend ist, dass vier Dokumentarfilme in den Wettbewerb eingeladen wurden. Während Côté vier Bodybuilder porträtiert, begleitet der Künstler Ben Russell in seinem 16-mm-Film "Good Luck", der auch auf der heurigen Documenta 14 in Kassel zu sehen ist, mit der Kamera Goldschürfer in Südamerika und dringt in Serbien in eine Kupfermine vor.

Ebenfalls von der Documenta nach Locarno kommt "Mrs. Fang", in dem der Chinese Wang Bing geduldig das Sterben der 67-jährigen, an Alzheimer leidenden Protagonistin mit der Kamera festhält. Travis Wilkerson wiederum spürt in "Did You Wonder Who Fired the Gun?" einem düsteren Geheimnis in seiner Familiengeschichte nach.

Zu den bekannteren Namen im Wettbewerb zählt auch der US-Indie-Regisseur Aaron Katz, der sechs Jahre nach "Cold Weather" mit "Gemini" nach Locarno zurückkehrt. Überhaupt sind die USA stark vertreten, kommt doch zu den Werken von Russell, Wilkerson und Katz auch noch "En el séptimo dia", in dem Jim Mackay von einem mexikanischen Fahrradkurier in Brooklyn erzählt, sowie John Carroll Lynchs Debüt "Lucky", in dem Harry Dean Stanton die Hauptrolle spielt.

Deutschland darf Jan Speckenbachs zweiten Spielfilm "Freiheit" ins Leopardenrennen schicken, aus Rumänien, das immer für Überraschungen gut ist, kommt "Charleston" von Andrei Cretulescu. Starpower bietet Serge Bozons weibliche "Dr. Jekyll and Mr. Hyde"-Variation "Madame Hyde", in dem Isabelle Huppert und Romain Duris die Hauptrollen spielen, während der Däne Hlynur Pálmason in "Winter Brothers" vom Streit zweier Brüder mit ihren Nachbarn erzählt.

Gespannt sein darf man auch auf den schon 1990 von Raul Ruiz gedrehten "La telenovela errante". Geschnitten wurde der Film nie, erst nach dem Tod des Chilenen im Jahr 2011 begann sich eine Gruppe junger chilenischer Filmemacher für den Film zu interessieren und sich um eine Rekonstruktion beziehungsweise den Schnitt des Films zu bemühen.

Entdeckungen kann man in Locarno aber auch immer wieder in der Reihe "Cineasti del presente" machen, in der heuer 16 Filme gezeigt werden. So läuft in diesem Rahmen "Dene wos guet geit", in dem Cyril Schäublin von einer Angestellten eines Callcenters erzählt. Die Österreicherin Astrid Johanna Ofner hat dagegen für ihr Debüt "Abschied von den Eltern" die gleichnamige Erzählung von Peter Weiss adaptiert, in der der Schriftsteller und Dramatiker seine Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik und die Flucht aus Nazi-Deutschland schildert.

Stars lockt man nach Locarno mehr als mit Filmen mit der Verleihung von Preisen, die jeweils von der Vorführung von Filmen der Geehrten begleitet wird. Neben dem Ehrenleoparden an Jean-Marie Straub wird der Leopard Club Award an Adrien Brody und der Excellence Award Moet & Chandon an Matthieu Kassowitz verliehen. Nastassja Kinski wird mit einer Hommage geehrt und der Premio Raimondo Rezzonico für einen wichtigen unabhängigen Produzenten geht an Michel Merkt, der unter anderem "Toni Erdmann" und "Elle" produzierte. Dazu kommt noch der "Pardo d´onore Manor", den Todd Haynes erhält, dessen Karriere 1991 mit der Präsentation seines Debüts "Poison" im Wettbewerb um den Goldenen Leoparden begann.

Spannend ist in Locarno immer auch die "Semaine de la critique", in deren Rahmen jeweils sieben Dokumentarfilme gezeigt werden. Der Bogen spannt sich heuer von "The Kongo Tribunal", in dem Milo Rau die Zustände in dem vom Bürgerkrieg erschütterten Kongo analysiert, über "Las Cinéphilas", in dem die Argentinierin Maria Álvarez einige Frauen porträtiert, die sich zwar nicht kennen, die aber die Kinoleidenschaft verbindet, bis zu "The Poetess", in dem Stefanie Brockhaus und Andreas Wolff mit der Kamera eine junge Araberin begleiten, die an einer Talentshow teilnimmt, bei der Superstars der Dichtkunst gesucht werden.

Und wer sich an Klassikern erfreuen will, dem bleibt die Jacques Tourneur-Retrospektive, die neben "I Walked with a Zombie" Perlen wie den grandiosen Film noir "Out of the Past", den meisterhaften Horrorfilm "Cat People" oder den farbenprächtigen Piratenfilm "Anne of the Indies" bietet.