69. Filmfestival von Locarno

Neue Filme unter anderem von Rainer Frimmel und Tizza Covi, Milagros Mumenthaler und Angela Schanelec werden im Wettbewerb des 69. Filmfestivals von Locarno (3. – 13.8. 2016) um den Goldenen Leoparden konkurrieren. Auf der Piazza Grande wird es dagegen Paul Greengrass mit "Jason Bourne" krachen lassen, aber auch Ken Loachs Cannes-Siegerfilm "I, Daniel Blake" und Maria Schraders "Vor der Morgenröte" fehlen hier nicht.

Eröffnet wird das Festival mit Colm McCarthys Verfilmung von M. R. Careys dystopischem Roman "The Girl with All the Gifts", in dem beinahe die gesamte Menschheit in Zombies verwandelt wird und scheinbar nur ein Mädchen noch Rettung bringen kann. Auf Mainstream-Kino verzichtet der künstlerische Leiter Carlo Chatrian, dessen Vertrag bis 2020 verlängert wurde, beim Piazza-Programm sichtlich auch heuer nicht, doch auch anspruchsvolle Produktionen kommen nicht zu kurz.

Für furiose Action sollte Paul Greengrass mit "Jason Bourne" sorgen, während Ken Loach in seinem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten "I, Daniel Blake" sozialkritische Töne anschlagen wird. Aufregendes Kino bietet hier auch Maria Schrader, die in "Vor der Morgenröte" in fünf hochkonzentrierten und dichten Momentaufnahmen Einblick in das Leben Stefan Zweigs im südamerikanischen Exil bietet.

Lief und läuft Schraders Film schon in den deutschen und österreichischen Kinos, so feiern davon abgesehen der Großteil der 16 Piazza-Filme in der fantastischen Open-Air-Arena ihre Weltpremiere. Vielfalt verspricht das Programm, spannt sich der Bogen doch vom indischen "Mohenjo Daro" (Aschutosh Govariker) über den malaiischen "Interchange" (Dain Iskander Said) bis zum portugiesischen "Comboio de sal e acucar" (Licinio Azevedo).

Stark vertreten ist Frankreich mit Gilles Marchands "Dans la Forêt", Emmanuel Courcols "Cessez-le-Feu", Marie-Castille Mention-Schaars "Le ciel attendra" und Christophe van Rompaeys "Vincent", während aus dem Gastgeberland nur Frédéric Mermouds "Moka" eingeladen wurde.

Auf der Piazza wird aber auch anlässlich der Verleihung des Ehrenleoparden an Alejandro Jodorowsky mit "Poesía sin fin" der neue Film des Chilenen gezeigt, sowie anlässlich des "Pardo alla carriera" an Mario Adorf Gerd Oswalds "Am Tag, als der Regen kam", in dem der Vollblutschauspieler den Anführer einer brutalen Berliner Gang spielt.

Dieser Film ist gleichzeitig ein Teil der heurigen Retrospektive, die sich mit zahlreichen Filmen dem Kino der BRD zwischen 1949 und 1963 widmet und deren schlechtes Image revidieren will. Die Heimatfilme und harmlosen Komödien, die man mit dieser Ära verbindet, spielen dabei eine untergeordnete Rolle. Während Klassiker wie Wolfgang Staudtes "Rosen für den Staatsanwalt", Kurt Hoffmanns Wirtschaftswunderkomödie "Wir Wunderkinder" oder Bernhard Wickis "Die Brücke" überraschenderweise fehlen, sind die aus dem Exil heimgekehrten Regisseure Fritz Lang, Robert Siodmak und Peter Lorre, aber auch der sich Anfang der 60er Jahre mit Kurzfilmen anbahnende "Junge Deutsche Film" stark vertreten.

Während das Piazza-Programm auch auf Abendunterhaltung für die zahlreichen im Tessin weilenden Touristen ausgerichtet ist, stellt der Internationale Wettbewerb das Herz des Festivals dar und bot in den letzten Jahren vielfach sperrige Filmkunst, die nur in Einzelfällen den Weg in die Kinos fand.

17 Filme, ausnahmslos Weltpremieren, konkurrieren in dieser Schiene um den Goldenen Leoparden. Auch hier ist die geographische Bandbreite groß, reicht von neuen Filmen des Argentiniers Matías Pineiro ("Hermia & Helena") und der schweizerisch-argentinischen Locarno-Siegerin Milagros Mumenthaler ("La idea de un Lago") über zwei japanische und einen thailändischen Beitrag bis zu zwei portugiesischen und vier osteuropäischen Produktionen.

Während die USA und überraschenderweise für einmal auch Italien hier fehlen, darf man man auf die neuen Werke von Angela Schanelec, die in "Der traumhafte Weg" laut Pressemeldung eine Geschichte über Machtlosigkeit und Glück erzählt, sowie auf "Mister Universo" von Tizza Covi und Rainer Frimmel gespannt sein. Nachdem das italienisch-österreichische Regieduo vor einigen Jahren im Wettbewerb von Locarno mit "Der Glanz des Tages" begeisterte, kehren sie nun zum Löwendompteur ihres Spielfilmdebüts "La pivellina" zurück und begleiten diesen quer durch Italien auf der Suche nach einem ehemaligen Mister Universum.

Auch in dieser Sektion ist die Schweiz als Koproduktionsland von Mumenthalers neuem Film sowie mit Michael Kochs Spielfilmdebüt "Marija" eher schwach vertreten. Einblick in das aktuelle eidgenössische Filmschaffen bietet dafür das "Panorama Suisse", in dem elf, teilweise schon in den Schweizer Kinos gelaufene Produktionen, wie Micha Lewinskys "Nichts passiert" oder Niklaus Hilbers "Amateur Teens" dem internationalen Publikum vorgestellt werden.

Raum für Entdeckungen bietet wie gewohnt die Sektion "Cinéastes du present" in der 15 erste oder zweite Spielfilme, davon 13 als Weltpremiere, gezeigt werden, während die Filmgeschichte abgesehen von der Retrospektive auch mit Hommagen an den vor kurzem verstorben Abbas Kiarostami, Jonas Mekas, Roger Corman und Clemens Klopfenstein gepflegt wird.

Wie gewohnt werden neben den Ehrenleoparden auch weitere Ehrenpreise vergeben. So geht der Excellence Award Moët & Chandon heuer an den Schauspieler Bill Pullman, der Premio Raimondo Rezzonico an den Produzenten David Linde und der Vision Award Nescens an den Filmkomponisten Howard Shore. Natürlich werden auch anlässlich dieser Preisverleihungen Filme der Geehrten gezeigt.

Zu Ehren Pullmans kann man unter anderem nochmals David Lynchs "Lost Highway" genießen, Einblick in Lindes Schaffen wird mit Ang Lees "Crouching Tiger, Hidden Dragon" und Alfonso Cuaróns "Y tu mama tambien" geboten und Shore wird unter anderem mit Tim Burtons "Ed Wood" und Jonathan Demmes "The Silence of the Lambs" geehrt.

Auf sieben außergewöhnliche Dokumentarfilme darf man sich schließlich in der "Semaine de la critique" freuen. So macht sich der Niederländer Alex Pitstra in "Bezness as usual" mit seiner Kamera auf die Suche nach seinem ihm unbekannten tunesischen Vater, während Heidi Specogna in "Cahier africain" die Grausamkeiten des Bürgerkriegs in Zentralafrika dem Vergessen entreißt.

Die Mexikanerin Laura Herrero Garvín wiederum dokumentiert in "El Remolino", wie ein Dorf im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas aufgrund verstärkter Abholzung zunehmend von Überschwemmungen bedroht ist, Katerina Suvorova blickt in "Sea Tomorrow" dagegen auf die Austrockung des Aral-Sees und deren Folgen. Pavel Cuzoioc rückt in "Secondo Me" die Garderobieren der großen Opern ins Bild und Rafał Skalski begleitet in "Monk of the Sea" einen jungen Thai, der zwei Wochen lang als buddhistischer Mönch lebt, während Anna Zamecka in "Communion" sich dem Alltag eines zehnjährigen autistischen polnischen Jungen und seiner etwas älteren Schwester widmet.