69. Berlinale: Keine Zukunftsperspektiven in der Provinz

Auf ganz unterschiedliche Weise erzählen der Kanadier Denis Côté in "Ghost Town Anthology" und der Türke Emin Alper in "A Tale of Three Sisters" von Landflucht und dem Traum von einem Neubeginn in der Stadt. Nur die Toten scheinen sich in der Abgeschiedenheit der Provinz wohl zu fühlen und kehren zurück.

Am Beginn von Denis Côtés "Ghost Town Anthology" steht eine Abfolge von Totalen der tristen winterlichen Provinz mit weiten Feldern und einzelnen verfallenden Häusern. Schließlich fällt der Blick auf eine Baustelle an einer Straße. Ein Auto rast heran, macht eine scharfe Kurve und kracht mit voller Wucht in eine kleine Mauer. Aus dem Hintergrund nähern sich zwei Kinder mit Masken, begutachten den Unfallort und entfernen sich wieder.

Dass Simon Selbstmord begangen hat, will man sich in der 215-Seelen-Gemeinde irgendwo im Hinterland von Quebec lange nicht eingestehen. Die psychologische Hilfe, die von außen angeboten wird, lehnt die Bürgermeisterin ab. Man regle solche Sachen selbst und das Leben müsse ja weiter gehen, erklärt sie. Der Verlust wird aber nicht verarbeitet, sondern verdrängt und bald erscheint nicht nur der Mutter der Verstorbene, sondern auch seinem Bruder und auch die Geister von vier Kindern, die vor Jahrzehnten vom depressiven Vater ermordet wurden, melden sich zurück.

Einerseits ist das ein klassischer Geisterfilm, andererseits natürlich ein Drama über den Umgang mit Verlust und Trauer und schließlich eine Schilderung der sterbenden kanadischen Provinz, in der es spätestens nach der Schließung einer Mine für die Bewohner keine Zukunft mehr zu geben scheint. Auch die Mutter des Verstorbenen und sein Bruder werden schließlich das Dorf verlassen, nur der Restaurantbesitzer träumt davon ein verfallenes Haus zu kaufen, während auch seine Lebensgefährtin in die Stadt ziehen möchte.

Neu sind die hier verhandelten Themen nicht, meisterhaft erzählte Atom Egoyan in "The Sweet Hereafter" von der Lähmung eines Dorfes nach einem Unfall, der mehreren Schulkindern das Leben kostete. Ungewohnt ist freilich, dass Côté die Geister der Toten real wie Zombies auftreten lässt und Genrekino mit Problemfilm kreuzt. Die Handlung entwickelt sich nicht wirklich weiter, aber wie Kameramann Francois Messier-Rheault auf grobkörnigem Super-16-mm-Material einerseits die Tristesse der winterlichen Provinz einfängt, andererseits auch eine fast geisterhafte Stimmung beschwört, beeindruckt doch.

Weit abgeschieden von der Welt liegt auch in Emin Alpers "A Tale of Three Sisters" das Bergdorf, in das ein Mädchen in einem Mercedes auf einer schmalen Bergstraße zurückgebracht wird. Vor malerischer Bergkulisse liegt das Dorf zwar auf einer Wiese, doch auch hier gibt es spätestens seit der Schließung einer Mine keine Arbeit und damit auch keine Zukunftsperspektiven mehr.

Das Mädchen hat der Vater deshalb wie schon seine beiden älteren Töchter als Hausmädchen zu einem Doktor in eine Stadt geschickt, doch alle kamen wieder zurück - die älteste, weil sie schwanger wurde, die zweite, weil während ihrer Arbeit ein Kind des Doktors starb, die dritte, weil sie ein Kind schlug.

Die Männer bestimmen hier, entscheiden über die Frauen. Zum Gespräch und Raki Trinken ziehen sich der Vater, der Arzt und der Dorfvorsteher in die Einöde, die Frauen bleiben im Haus. So mögen sich die drei Schwestern auch immer wieder streiten, so brauchen sie doch einander und sind sich gegenseitig Halt, da sich der Traum von einem Ausbruch aus dieser archaischen Welt nicht zu erfüllen scheint.

In herrlichen Bildern fängt Alper zwar das abgeschiedene Dorf und die Berglandschaft ebenso ein wie er die Innenszenen mit dem offenen Herd in einem Licht und Farben filmt, die an die niederländische Malerei erinnern, aber die teilweise auch märchenhafte Geschichte bleibt doch dünn und nie geht dieser Film über die Rückständigkeit anatolischer Bergdörfer und die patriarchale Gesellschaft über längst Bekanntes hinaus. - Trotz der unbestrittenen visuellen Schönheit ziehen sich so die 108 Minuten dieses Films sehr.