69. Berlinale: Durchwachsene Abschiedsvorstellung

Mittelmaß dominierte den Wettbewerb von Dieter Kosslicks 18. und letzter Berlinale. Begeisternde Höhepunkte waren dünn gesät. – Der zukünftige Leiter Carlo Chatrian wird neue Akzente setzen müssen.

Es war eine Berlinale wie in den letzten Jahren üblich. So wirklich ärgern musste man sich kaum einmal, aber auch richtige Begeisterung kam nur selten auf. Dünn besetzt war der Wettbewerb mit 17 Filmen von Anfang an, noch schmaler wurde er, als Zhang Yimous "One Second" kurzfristig aus dem Programm genommen wurde. Für Diskussionen sorgte, ob dafür wirklich – wie offiziell angegeben – technische Gründe verantwortlich waren oder ob doch die chinesischen Behörden den Film, der während der Kulturrevolution spielt, zurückzogen.

Auffallend viele Filme liefen im Gegensatz dazu "Außer Konkurrenz" – auch bei diesen kam aber kaum Begeisterung auf. Eine anregende Masterclass bot zwar die 90-jährige Agnès Varda, die in "Varda par Agnès" in einem Theater sitzend mittels eines mit zahlreichen Filmausschnitten gespickten Vortrags Einblick in ihr 60-jähriges Schaffen und ihre Gedanken bietet. Eine echte Bereicherung des Wettbewerbs wäre aber Adam McKays mitreißend inszeniertes Biopic über den ehemaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney gewesen ("Vice").

Spürbar machte dieser mit Verve und großem Einfallsreichtum inszenierte Film, dass man ohne große US-Produktionen kaum ein großes Festival bestreiten kann. Film wie "Vice" bringen eben nicht nur Stars wie Christian Bale, sondern auch saftiges Kino. Dieses fehlte aber heuer weitgehend ebenso wie – abgesehen von Wang Xiaoshuais "So Long, My Son" – großes Arthousekino, das auch ein breiteres Publikum begeistern kann.

Mit Angela Schanelecs "Ich war zuhause, aber…" auf der einen Seite und Filmen wie "La paranza dei Bambini" oder der außer Konkurrenz gezeigte "Marighella", in dem Wagner Moura vom Kampf des titelgebenden Freiheitskämpfers gegen die brasilianische Militärdiktatur Ende der 1960er Jahre erzählt, wurde wieder einmal sichtbar, wie die Schere immer weiter auseinander geht. Auf der einen Seite stehen Filme, die man außerhalb von Festivals kaum sehen wird, weil es dafür kein Publikum gibt, auf der anderen Seite allzu glatte Produktionen, die zwar brav und solide eine Geschichte bebildern, denen aber der Feinschliff, die Leidenschaft und der inszenatorische Furor fehlen.

Der neue Leiter Carlo Chatrian wird den Wettbewerb neu aufstellen müssen, nur ist das leichter gesagt als getan. Denn ein A-Festival muss sich bei der Auswahl der Wettbewerbsfilme an bestimmte Regeln halten, die die Auswahl einschränken, andererseits ist unbestritten, dass Produzenten und Regisseure ihre Filme lieber in Cannes als in Berlin sehen.

Dass das Festival nächstes Jahr nach der vorverlegten Oscar-Verleihung stattfindet (20.2. – 1.3. 2020) dürfte auch nicht unbedingt ein Vorteil sein. Noch mehr große US-Produktionen werden so schon früher in den Kinos laufen und sich nicht mehr als Festivalfilme anbieten.

Gespannt sein darf man auch, welche Position Carlo Chatrian gegenüber Streaming-Anbietern wie Netflix einnehmen wird. Proteste rief heuer hervor, dass Isabel Coixets Netflix-Produktion "Elisa y Marcela" im Wettbewerb lief, doch nach Sichtung lässt sich feststellen, dass von solchen Produktionen, dem Kino kaum Gefahr droht. In schönen Schwarzweißbildern ist diese im spanischen Galizien Ende des 19. Jahrhunderts spielende lesbische Liebesgeschichte zwar verfilmt, verliert sich aber in Kitsch.

Auch Chatrian und sein Team werden das Programm folglich nicht aus dem Hut zaubern können, sondern nehmen müssen, was zu bekommen ist. Auch so einen ästhetisch avancierten Kurs, den er zumal in seinen ersten Jahren als Leiter des Festivals von Locarno fuhr, wird der Italiener an der Spree nicht einführen können, denn die Berlinale versteht sich auch als Publikumsfestival. – Gespannt darf man folglich sein, wie es mit dem Festival weitergeht und ob es Chatrian gelingt das größte deutsche Filmfestival an die großen Festivals von Cannes und Venedig, gegenüber denen die Berlinale im letzten Jahrzehnt viel an Boden verlor, wieder heranzuführen. - Zuvor aber wird man ins Tessin blicken und schauen, welche neuen Akzente Lili Hinstin als Chatrians Nachfolgerin in Locarno setzen wird.