67. IFFMH: Packender Realismus und schillernde Satire

Starke Dramen, die hautnah an ihren Protagonisten sind, kann man beim Filmfestival Mannheim-Heidelberg mit "Jirga" des Australiers Benjamin Gilmour und "Socrates" des brasilianisch-amerikanischen Filmemachers Alex Moratto entdecken. Eine lustvolle Abrechnung mit dem heutigen China zeigt dagegen Cathy Yan mit ihrem Langfilmdebüt "Dead Pigs".

Mitten hinein in das Leben des 15-jährigen Protagonisten wirft Alex Moratto den Zuschauer in "Socrates". In Nahaufnahme erfasst die Kamera die scheinbar schlafende Mutter, auf die der Junge einredet. Doch auch als Socrates sie schüttelt, bewegt sie sich nicht. Wie der geschockte Teenager bei der folgenden Leichenfeier die Stimmen der Anwesenden nicht wahrnimmt, hört sie auch der Zuschauer nur gedämpft. Keine Reaktion zeigt Socrates auch gegenüber einer Sozialarbeiterin, die nach seinem Vater fragt und ihn in einem Heim unterbringen will.

Lieber als zum Vater zu ziehen, sucht Socrates verzweifelt einen Job, um sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Da er aber noch nicht 18 ist, wird er immer wieder abgewiesen, einen Aushilfsjob findet er aber auf einem Schrottplatz. Dort entwickelt sich auch eine sexuelle Beziehung zu einem Kollegen, doch dieser stößt Socrates bald wieder zurück, da er zu seiner Homosexualität nicht stehen kann.

Hautnah folgt die unruhige Handkamera dem Jugendlichen durch seinen Alltag. Seine zunehmende Verzweiflung, seine Isolation und seine innere Unruhe werden durch die dynamische, nie zur Ruhe kommende Kamera unmittelbar erfahrbar. Große Intensität entwickelt "Socrates", der im Rahmen eines Projekts der UNICEF mit einer Gruppe von 16- bis 20-jährigen am Rand der Gesellschaft stehenden brasilianischen Jugendlichen mit einem Budget von unter 20.000 Dollar hergestellt wurde, aber nicht nur durch diese zupackende und ungeschönte Inszenierung, sondern auch durch den ungemein authentischen Hauptdarsteller Christian Malheiros.

So nah die Kamera dabei auch immer wieder an Socrates ist, so sehr weitet Moratto doch immer wieder den Blick. Denn einerseits macht er die immer noch herrschende Diskriminierung von Homosexuellen in Brasilien bewusst und macht anderseits mit wiederholten Totalen der desolaten Wohnviertel deutlich, dass das geschilderte Schicksal kein Einzelfall ist, sondern dass hier ein strukturelles Problem besteht.

Wie Moratto wirft auch der Australier Benjamin Gilmour in "Jirga" den Zuschauer unmittelbar in den Film hinein und fokussiert ganz auf seinem Protagonisten. Mit Bildern von Infrarotkameras schildert er einen militärischen Einsatz in Afghanistan, um dann mit einem Schnitt und dem Insert "Vier Jahre später" die Haupthandlung einsetzen zu lassen.

Was es mit diesem Auftakt auf sich hat, wird man erst später erfahren. Nichts erfährt man zunächst auch über den Australier, dem man durch das Gewusel von Kabul folgt. Irritation löst freilich ein Gurt mit einer großen Geldsumme aus, den der Protagonist sich um den Bauch gebunden hat. Geschickt baut Gilmour Spannung auf, indem er Informationen zurückhält.

Von Kabul will der Australier weiter nach Kandahar, doch niemand will ihn in diese gefährliche Provinz fahren. Zwar kann er schließlich doch noch einen Fahrer überreden, doch fällt er bald in die Hände von Taliban. Während andere hingerichtet werden, wird er verschont und über das Gespräch, in dem er von einer Schuld erzählt, die er bei einem Kriegseinsatz auf sich geladen hat und für die er nun die Hinterbliebenen um Vergebung bitten will, kommen sie sich langsam näher. Sichtbar wird so, dass die Taliban nicht nur grausame Kämpfer sind, sondern eben auch Familien haben, die unter dem Krieg leiden.

Wie "Socrates" entwickelt auch "Jirga" seine Spannung durch seinen ungeschminkten Realismus und seine zupackende, unmittelbare Inszenierung. Mit nur einer Handkamera und teilweise unter lebensgefährlichen Bedingungen drehte Gilmour in Afghanistan. Er erzählt keine "true story", aber sein Film entwickelt in der rohen, quasidokumentarischen Machart und im Gemisch der Sprachen große Authentizität, vermittelt in einem malerischen türkisen See inmitten einer braunen Wüstenlandschaft auch für einmal ein anderes Bild von Afghanistan abseits des Kriegs und plädiert bewegend für Abbau von Feindbildern durch Kommunikation statt vorschnellem Urteilen.

Sichtlich ein größeres Budget stand dagegen der chinesisch-amerikanischen Filmemacherin Cathy Yan bei "Dead Pigs" zur Verfügung. Am Beginn steht bei der in der boomenden Metropole Shanghai spielenden Satire ein totes Schwein, bald aber werden tausende tote Schweine im Fluss entsorgt werden. Während ein Schweinezüchter damit seine Existenzgrundlage verliert, plant eine Immobilienfirma eine Luxusanlage, doch die Schwester des Schweinezüchters will ihr Haus, das mitten im Brachland steht, nicht verkaufen.

Einige weitere Protagonisten führt Yan noch ein und zeichnet mit deren Geschichten ein breit gefächertes bissiges Porträt des heutigen China, blickt auf Gewinner des Booms ebenso wie auf Verlierer, kritisiert den Materialismus und macht sich über Teambildungsaktionen lustig.

In souveränem Spiel mit Licht und Farben, geschickter Wahl der Schauplätze und treffender Besetzung der zahlreichen Rollen entfaltet sie ein breitgefächertes und facettenreiches Gesellschaftspanorama, das sich in der Verknüpfung der Geschichten sichtlich am polyphonen Erzählen eines Robert Altman orientiert.