67. Berlinale: Scheu wie Wild, aggressiv wie Bestien

Konträre Menschenbilder präsentieren die Wettbewerbsfilme der Ungarin Ildiko Enyedi und des Amerikaners Oren Moverman. Während die Protagonisten in "On Body and Soul" so scheu sind, dass sie sich nur sehr langsam näherkommen können, spürt Moverman in "The Dinner" dem amerikanischen Aggressionstrieb nach.

Ein märchenhaftes und idyllisches Bild steht am Beginn von "On Body and Soul": Ein Hirsch und eine Hirschkuh beobachten sich in einem frisch verschneiten Wald, nur langsam nähern sie sich einander und berühren sich schließlich zärtlich. Abrupt folgt auf diesen Auftakt der Sprung ins realistische und brutale Milieu eines Schlachthauses, in dem die Bullen eingepfercht sind. Viel Blut fließt hier, wenn quasidokumentarisch deren Verarbeitung geschildert wird.

Hier beobachtet der zurückhaltende Angestellte Endre von seinem Büro aus die neue Qualitätsprüferin Maria, die äußerst penibel ist, über ein sagenhaftes Gedächtnis verfügt, aber sich völlig zurückzieht. Als eine Psychologin feststellt, dass Endre und Maria, dieselben Träume von zwei Hirschen im Wald haben, und diese das auch erfahren, kommen sie sich zwar näher, doch die Beziehung droht zu zerbrechen, bevor sie wirklich beginnt, weil Marija erst mühsam lernen muss aus ihrem Schneckenhaus auszubrechen, einen Bezug zu ihrem Körper zu finden und Nähe zuzulassen.

Langsam und mit großem Feingefühl entwickelt Enyedi die Geschichte mit wunderbarem Gespür für sanften Humor und mit subtilem Blick auf diese verlorenen Protagonisten, denen als Gegenpol ein extrovertierter junger Arbeiter im Schlachthaus gegenübersteht, der selbstbewußt auftritt.

So sicher die Ungarin aber Realismus und märchenhaft-poetische Momente mixt, so überzeugend die zurückhaltend agierenden Schauspieler auch sind und so faszinierend dieser Film auch in der Anlage und der zarten Entwicklung der Beziehung auch ist, so macht es doch gerade auch die Verschlossenheit der Protagonisten dem Zuschauer schwer, Nähe zu ihnen zu entwickeln. Interessiert folgt man ihren Wegen und ihrer Geschichte, bleibt emotional aber doch auf Distanz. Zu wenig erfährt man einfach über diese Figuren, sodass der Film erst im bittersüß-dramatischen Finale wirklich bewegt.

Wie bei Enyedi Idylle und Realität aufeinandertreffen, so treffen auch in "The Dinner" schon zum Vorspann mit den erlesenen Speisen eines Nobelrestaurants und Bildern eines Friedhofs Gegensätze aufeinander. In dieses Restaurant haben der Politiker Stan Lohmann (Richard Gere) und seine Frau (Rebecca Hall) seinen Bruder Paul (Steve Coogan) und dessen Frau Claire (Laura Linney) eingeladen. Etwas Wichtiges soll an diesem Abend besprochen werden und die einzelnen Gänge vom "Aperitif" über "Vorspeise" bis zu "Dessert" und "Digestif" gliedern als Kapitelüberschriften den Film.

Erzählt wird zunächst aus der Perspektive des frustrierten Ex-Lehrers Paul, der immer wieder im Voice-over an die amerikanischen Kriege und ihre Opfer erinnert. Er kann seinen Bruder nicht ausstehen, ist ein Zyniker voll Hass auf die Gesellschaft und wohl auch auf sich.

In zahlreichen Rückblenden bekommt man im Laufe des Abends Einblick nicht nur in seinen schwierigen psychischen Zustand, sondern vor allem in ein brutales Verbrechen seines Sohnes. Vor der Frage stehen nun die Eltern, ob sie die Tat vertuschen und zur Tagesordnung übergehen sollen oder ob sie ihre Kinder der Polizei übergeben sollen.

Etwas aufgesetzt wirkt der Kontrast zwischen dem Nobelrestaurant mit den delikaten Speisen, die vom Kellner genau erklärt werden, und den Abgründen, die hinter der Fassade der Familien lauern. Etwas überkonstruiert und überladen wirkt "The Dinner" auch mit der Verknüpfung der aus Frustration resultierenden Aggression in den Familien und der die gesamte amerikanische Geschichte prägenden Gewalt.

Andererseits ist das aber auch ein sehr dicht inszeniertes und hervorragend gespieltes, durch den geschickten Aufbau sukzessive tiefere Einblicke gewährendes Drama, das mit genauem Blick auch die Machtverhältnisse in den Familien, die Kränkungen und wechselnden Allianzen, die sich hier bilden, die Rolle der starken Ehefrauen im Hintergrund und Pauls Gefühl der Zurücksetzung und Missachtung durch Frau und Bruder messerscharf durchleuchtet. – Nicht alles mag hier aufgehen, aber Steve Coogan empfiehlt sich mit seiner Verkörperung des Paul schon mal für Darstellerpreis.