66. Berlinale: Das Private und das Politische

15. Februar 2016
Bildteil

Für einen ersten Höhepunkt im Wettbewerb der Berlinale sorgte Mia Hansen-Løve, die in "L´avenir" mit einer großartigen Isabelle Huppert in der Hauptrolle ein starkes Frauenporträt zeichnet. Gianfranco Rosi stellt dagegen in seinem Dokumentarfilm "Fuocoammare" Szenen vom ruhigen Alltag auf der Insel Lampedusa schockierende Bilder und Erzählungen der sich täglich um die Insel abspielenden Flüchtlingskatastrophe gegenüber.

Nachdem Giancarlo Rosi in dem in Venedig preisgekrönten Dokumentarfilm "Sacro GRA" den Alltag entlang der Ringautobahn um Rom schilderte, blickt er nun in "Fuocoammare" auf den Alltag auf der Flüchtlingsinsel Lampedusa. Am Beginn steht ein Insert zu Lage und Größe der Insel sowie zum Ausmaß der Flüchtlingsströme und der Zahl der Opfer, die diese bislang forderten.

Auf jeden Kommentar verzichtet Rosi im Folgenden. Er beschränkt sich auf die Rolle des geduldigen, sich jeder Position enthaltenden Beobachters und lässt dabei zwei unterschiedliche Aspekte aufeinanderprallen. Auf der einen Seite begleitet er den zwöfljährigen Samuele mit der Kamera durch den Alltag. In langen, ruhigen Einstellungen zeigt er ihn beim Bau einer Steinschleuder, in der Schule, beim Gespräch mit dem als Fischer arbeitenden Vater oder beim Spaghettiessen.

Auf der anderen Seite stehen Einsätze zur Rettung von Flüchtlingen, schildert ein Arzt, welche erschütternden Erfahrungen er dabei machte und dass er sich an die Toten nie gewöhnen wird. Rosi zeigt, wie Flüchtlinge fotographiert und perlustriert, wie Verletzte versorgt und auch - schwer zu ertragende Bilder - wie Tote geborgen werden.

Schockierend wirkt der Gegensatz von Idylle und Schrecken, gleichzeitig macht Rosi in der gleichwertigen Abfolge dieser gegensätzlichen Szenen deutlich, wie das eine neben dem anderen besteht, das ganz normale Leben neben dem Schrecklichen einfach weitergeht.

So überzeugend "Fuocoammare" - der Titel bezieht sich auf ein Lied, das einmal im Radio gewünscht und gespielt wird - im ruhigen und genauen Blick aber auch ist, so sehr sind doch auch Redundanzen in der Schilderung von Samueles Alltag nicht zu übersehen. Lange wirken zwar die im Vergleich zu diesen Szenen sehr kurzen, aber zutiefst erschütternden Bilder von der Flüchtlingskatastrophe gerade durch den Kontrast nach, doch tiefere Einblicke vermittelt Rosi nicht, beschränkt sich darauf zu zeigen.

Im Gegensatz zu dieser ruhigen Beobachtung steht die dynamische Erzählweise von Mia Hansen-Løves "L´avenir". Wie die von Isabelle Huppert gespielte Philosophieprofessorin in ihrem ausgefüllten – aber nur intellektuell wirklich erfüllten - Leben kaum zur Ruhe zu kommen scheint, wird mit hohem Erzähltempo und agiler Kamera vermittelt.

Mit Engagement unterrichtet die auf die 60 zugehende Lehrerin an einem Pariser Gymnasium, trifft sich in einem Verlag zwecks Überarbeitung eines von ihr geschriebenen Schulbuchs, muss sich um ihre unter Depressionen leidende Mutter kümmern oder erhält Besuch von ihren erwachsenen Kindern oder einem ehemaligen Schüler.

Zum Nachdenken kommt sie erst, als ihr Mann sie wegen einer anderen Frau verlässt und ihre Mutter nach kurzem Aufenthalt in einem Altersheim stirbt. – Freiheit scheint sie damit nach langer Zeit erstmals wirklich gewonnen zu haben und muss sich nun neu orientieren. Erkennen muss sie dabei zwar, dass sie mit dem radikalen gesellschaftspolitischen Engagement, mit dem sie auf einem Bauernhof im Vercors konfrontiert wird, nichts mehr anfangen kann, doch mit der Geburt eines Enkels kommt auch eine neue Rolle und Aufgabe auf sie zu.

Schon ziemlich großartig ist, wie Hansen-Løve um Huppert als Zentrum herum im Grunde vom ganzen Leben und seinen Wendungen erzählt, mit Nebenfiguren den Bogen von Geburt bis zum Tod spannt und gleichzeitig auch gesellschaftliche Umbrüche aufzeigt, wenn im Verlag Marketing und Verkaufszahlen über den Inhalt gehen, wenn die Aktivisten nur noch über Internet publizieren und ihre Texte ohne Namen versehen wollen, um ein Zeichen gegen den Individualismus zu setzen.

Ein reicher und dennoch leichter, nichts dramatisierenden und dennoch mitfühlend-warmherziger und trotz der ernsten Themen sommerlich heller Film ist der Französin hier gelungen, der durchaus am kommenden Samstag mit dem einen oder anderen Preis ausgezeichnet werden könnte.