64. Filmfestival Mannheim-Heidelberg: Crowd-Pleaser und innovatives Kino

Auch heuer überzeugte das Filmfestival Mannheim-Heidelberg mit einem handverlesenen und vielfältigen Wettbewerbsprogramm. Dies zeigte sich auch an der breitgestreuten Vergabe der Preise. Der Hauptpreis des Festivals, der "Grand Newcomer Award 2015" ging an den mexikanischen Beitrag "La delgada linea amarilla - The Thin Yellow Line".

Nicht ganz bezahlt gemacht hat sich zwar die Verlegung des Festivals von November auf Oktober, denn trotz Verlängerung der Veranstaltung um sechs Tage und Erweiterung des Programms um TV-Serien konnten nicht mehr Kinobesuche erzielt werden als letztes Jahr. Mit 60.000 Eintritten stagniert man hier freilich auf hohem Niveau, dennoch wird das Festival im nächsten Jahr wieder in der ersten November-Hälfte stattfinden.

Weniger an den Filmen als vielmehr am Wetter lag es aber wohl, dass das Publikum nicht ganz mitspielte, denn das Wettbewerbsprogramm bestach wieder durch große Vielfalt und hohe Qualität. Den "Grand Newcomer Award" verlieht die dreiköpfige Jury, der unter anderem die belgische Regisseurin Marion Hänsel angehörte, an "La delgada linea amarilla - The Thin Yellow Line", in dem der Mexikaner Celso R. Garcia von einer Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter erzählt, die auf einer Landstraße den gelben Mittelstreifen erneuern müssen. Die Jury überzeugte hier vor allem das gute Drehbuch, die sorgfältige Regie und ein starkes Ensemble.

Mit "12 Months in 1 Day" von Margot Schaap wurde ein innovativer Film, der nach neuen Erzählweisen sucht nicht nur mit dem "Special Newcomer Award", sondern auch mit dem FIPRESCI-Preis ausgezeichnet. Mitten hinein in eine Silvesterparty taucht hier die Kamera und eine Off-Erzählerin stellt mehrere Gäste vor, konzentriert sich dann auf die Gastgeberin Mischa sowie Yvonne und Seb, die Mischas im vergangenen Jahr verstorbener Bruder Twan verbindet.

Durch ein Jahr begleitet der Film in 74 Minuten diese drei jungen Erwachsenen durch Amsterdam, hört ihnen zu bei ihren Gesprächen über ihre Zukunftspläne, Sehnsüchte und Gefühle und sieht zu, wie sie sich näherkommen oder voneinander entfernen.

Von der Nacht in den Tag bis zum Abend und wieder in die Nacht spannt sich der Bogen der locker aneinandergereihten Szenen und gleichzeitig vom Winter über das Frühjahr mit grünen Bäumen über Badeszenen im Sommer und fallende Blätter im Herbst bis zu einem "Stille Nacht" eines Chors auf den Straßen und wieder zu Silverster-Szenen, mit denen sich der Kreis zum Anfang schließt. Gleichzeitig ist das auch eine Reise durch die Parks und Straßen von Amsterdam, zu einem Flohmarkt und einem Jahrmarkt mit Riesenrad.

Ein wunderbar natürlicher, fließender Szenenbogen ist das, dokumentarisch in seinem Gestus und ohne Entwicklung einer dramatischen Handlung, sondern vielmehr eine Reflexion über Prägung durch die Kindheit, über Freundschaft und über das, was Menschen zusammenhält, und darüber, wie unterschiedlich die Zeit von ihnen wahrgenommen wird.

Doch emotional will man zu den Protagonisten keinen Zugang finden, zu theoretisch und kopflastig bleibt diese poetische Erkundung, zu wenig Profil gewinnen die Figuren, zu fern bleiben sie einem, wobei zur Distanzierung auch der die Szenen begleitende Off-Kommentar der Regisseurin zur Kindheit der Protagonisten beiträgt.

Emotional ganz andere Wirkung entwickelt hier schon "Home Care" von Slávek Horák, den Tschechien heuer für den Oscar eingereicht hat. Das liegt zum einen an der Konzentration auf die von Alena Mihulova großatig gespielte Hauskrankenschwester Vlasta, andererseits aber auch an der atmosphärisch dichten Einbettung der Handlung im ländlichen Tschechien und drittens am warmherzigen Blick.

Für ihre Patienten opfert sich diese Pflegerin, der die Kamera auf Schritt und Tritt folgt, ebenso auf wie für ihren Mann, der gar nicht zu schätzen weiß, was er an ihr hat. Doch dann wird bei ihr selbst Bauchspeicheldrüsenkrebs festgestellt und ihr nur noch eine Lebensdauer von etwa sechs Monaten in Aussicht gestellt.

Naturheilkunde und Heiler, die sie bisher verlachte, beginnen sie nun zu interessieren, lernt, dass sie auch auf ihre Seele hören muss und nicht nur geben darf, sondern auch nehmen und vor allem lernen muss, den Augenblick zu genießen.

Wie Horák die Balance zwischen Komik und Tragik hält, wie der Film trotz des ernsten Themas Leichtigkeit bewahrt und mit einem großen Fest endet, aber den Tod nie verdrängt oder ausklammert, das lässt einem diesen Film und seine Protagonistin rasch ans Herz wachsen udn verleiht "Home Care" durchaus das Potential zu einem internationalen Crowd Pleaser.

Es ist nicht zuletzt die Mischung aus so unterhaltsamen und publikumsattraktiven Filmen, aus packenden Genrevariationen und eigenwilligen Produktionen wie "12 Months in 1 Day", die die Stärke und den Reiz dieses Festivals ausmachen und dafür sorgen, dass es auch nach über 60 Jahren noch jugendlich frisch wirkt.