63. IFFMH: Formal aufregendes und inhaltlich spannendes junges Kino

Mit 39 Filmen erfreulich schlank war das Programm des 63. Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg (6.11. – 16.11. 2014). Das Label "handverlesen" kann man der Auswahl dafür attestieren: Keine Nieten gab es hier, sondern aufregende Debüts von einer hinreißend unkonventionell erzählten iranischen Lebensgeschichte bis zur kunstvollen Klage über die Deportation von über 40.000 Balten während der Stalinzeit. Den Hauptpreis des Festivals für den "Newcomer of the Year" vergab die aufgrund von Krankheit eines Mitglieds nur zweiköpfigen Jury jedoch an "23 Segundos" aus Uruguay.

Das 1952 gegründete Filmfestival Mannheim, das seit 1994 als zweiten Spielort Heidelberg besitzt, gehört zu den ältesten und auch renommiertesten Filmfestivals. Mit 39 Filmen kann und will man es nicht mit den Großveranstaltungen in Berlin, Locarno und Venedig aufnehmen, dafür lässt man hier jedem Film Raum und bietet nach den Vorführungen Filmgespräche im Foyer an.

Das Motto "Filme feiern!" wurde zumindest in diesem Jahr in dem am Zusammenfluss von Neckar und Rhein gelegenen 300.000 Einwohner zählenden Mannheim ebenso erfüllt wie das Plakatmotiv, das einen Blick durch ein Fenster in die Welt in Aussicht stellt. Dieser Blick in die Ferne und auf andere Kulturen passt gut zu einer Stadt, in der Menschen aus 170 Nationen leben.

Im Gegensatz zu dieser Offenheit steht die Abschiebung von Asylanten, die der Brite Bruce Goodison in "Leave to Remain" anprangert. Der Titel bezieht sich auf den Stempel im Pass "Unbefristete Aufenthaltsbewilligung", nach dem sich die jugendlichen Flüchtlinge sehnen, um die sich der Englischlehrer Nigel im Rahmen eines kirchlichen Hilfsprojekts kümmert. Er versucht sie mit Englischunterricht, Ausflügen in die Midlands oder der Inszenierung eines Krippenspiels auf das Leben in England vorzubereiten.

Bewegende Kraft entwickelt dieses Sozialdrama durch den quasidokumentarischen Blick auf den Alltag und die authentischen Laiendarsteller, die selbst Asylanten sind. In der Fokussierung auf einer jungen Frau auf Guinea, die in ihrer Heimat vergewaltigt, zwangsverheiratet und an den Genitalien verstümmelt wurde, einem jungen Afghanen, der traumatisiert ist von der brutalen Ermordung seines Onkels, macht Goodison eindrücklich am Einzelbeispiel die Tragik von Flüchtlingsschicksalen bewusst und stellt diesen die kalte britische Bürokratie gegenüber.

Am Beispiel des Afghanen Omar zeigt er aber auch, dass beim Asylverfahren letztlich nicht unbedingt die wahren Opfer, sondern vielmehr der beste Geschichtenerzähler sein Ziel erreicht.

Der 1982 geborene Iraner Payman Haghani legt nach seinem Debüt "The Man Who Ate His Cherries" mit "316" einen unglaublich verspielten Film vor, in dem er mit lustvollem Einsatz verschiedenster filmischen Mittel in 72 Minuten eine Lebensgeschichte erzählt, die er zudem noch in die iranische Geschichte einbettet. Gesicht bekommt die Ich-Erzählerin allerdings keines, sondern der Fokus liegt auf den 316 Paar Schuhen, die sie während ihres Lebens trug, aber auch auf denen der Menschen, denen sie begegnete.

In zehn Kapiteln spannt der Film den Bogen von der Empfängnis der Erzählerin während der Schah-Zeit bis zu ihrem Tod im Jahre 2035. Auf Kinderschuhe folgen Militärstiefel bei der Revolution, Tanz- und Turnschuhe in der Jugendzeit und schließlich Filzpantoffeln im Alter. Mit Animationen wird die Schwangerschaft illustriert, mit TV-Reportagen an die Revolution und den Irak-Krieg erinnert und auch mit Split-Screen wird gearbeitet.

Vielfältig und treffend ist auch der Soundtrack, bei dem auf euphorische Revolutionslieder mit schwerer Musik die Schrecken der Kriegszeit folgen, die dann wieder von einem Hit Michael Jacksons abgelöst wird.

Nur die Off-Erzählerin hält diese unglaublich dichte und rasante Szenenfolge zusammen. Sie zeichnet einerseits bewegend eine universelle Lebensgeschichte von Kindheit über Heirat und Mutterschaft bis Abnabelung der Kinder, Verlust der Eltern und des Mannes und eigenem Sterben nach, bietet andererseits aber auch einen Abriss der iranischen Geschichte seit den 1970er Jahren. – Haghani ist hier ein poetischen und trotz der ernsten Themen durch den befreiten Einsatz filmischer Mittel und der ungewöhnlichen Fokussierung auf Schuhen federleichtes Filmjuwel gelungen, in dem auch feiner Humor nicht fehlt.

Wie Haghani verzichtet auch der 27-jährige Este Martti Helde in seinem Spielfilmdebüt "Risttuules – In the Crosswind" ganz auf Dialoge und beschränkt sich auf das Voice-Over seiner Protagonistin Erna. Sie wurde wie über 40.000 weitere Balten 1941 auf Befehl Stalins nach Sibirien deportiert. In Briefen berichtet sie ihrem Mann, von dem sie bei der Deportation getrennt wurde, von der Deportation, dem harten Lagerleben, dem Tod der Tochter und dem Ende der Haft nach dem Tod Stalins, erinnert sich aber auch kurz an das glückliche Familienleben vor der Deportation.

Helde verzichtet auf dramatischen Handlungsaufbau, sondern lässt den Zuschauer vielmehr in langen, in brillantem Schwarzweiß gehaltenen Plansequenzen mit komplexen Kamerabewegungen in diese Zeit und die Erinnerungen Ernas eintauchen. Während sich die Menschen dabei in den in flirrendes Sommerlicht getauchten Erinnerungen an die Zeit vor der Deportation noch bewegen, verharren sie in den Tableaus der Deportation und Lagerhaft unbewegt, während die Kamera sie und die Räume langsam abfährt.

Erstarrt sind hier Mensch und Welt förmlich durch den Schrecken, jedes Leben scheint aus ihnen gewichen. – So entwickelt sich dieser höchst kunstvolle Film, der in der visuellen Gestaltung an die Filme Andrej Tarkwowskijs erinnert, zum großen Klagegesang und ruft erschütternd das Verbrechen an den Balten, das eine Darstellung mit den Mitteln eines konventionellen Spielfilms nur verharmlosen würde, in Erinnerung.

Im Gegensatz zu diesen beiden Filmen kommt der Aseri Elchin Musaoglu in "Nabat" weitgehend ohne Worte aus. Den langsamen Rhythmus gibt schon die erste Einstellung vor, in der man lange eine staubige Bergstraße sieht, auf der sich langsam eine Frau mit zwei Milchflaschen nähert. Als die Frau wieder aus dem Blickfeld verschwindet, schwenkt die Kamera langsam um 180 Grad, erfasst nun die Frau von hinten und im Hintergrund das Bergdorf, in dem sie die Milch abliefert. Erfahrbar wird in dieser langen Plansequenz, wie mühsam und lang der Weg dieser Frau namens Nabat ist, die mit ihrem bettlägerigen Mann auf einem Hof außerhalb des Dorfes lebt.

Geduldig schildert Musaoglu das archaische Leben in den Steinhäusern, in denen Petroleumlampen für Licht sorgen, mit Holzfeuer Wasser erwärmt und eine Wanne aufgestellt wird, um in ihr stehend zu baden. Die liebevolle Fürsorge, mit der sich Nabat um ihren Mann kümmert, erinnert an das mythologische Ehepaar Philemon und Baucis, aber das Leben in dieser Region ist nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich.

Den Krieg sieht man nicht, doch hört man nachts Granatfeuer und sieht am folgenden Tag im Dorf eine Spur der Zerstörung. Haben die Jungen schon lange die Gegend verlassen, so sind eines Tages auch die anderen Bewohner weg, und Nabat, die auch immer wieder ihrem im Krieg gefallenen Sohn nachtrauert und von seiner Rückkehr träumt, bleibt schließlich alleine zurück, als auch noch ihr Mann stirbt.

Meisterhaft wie die Bildsprache ist auch die Tonspur dieses mit dem Mannheim-Heidelberg-Preis, dem FIPRESCI-Preis und dem Preiz der Ökumenischen Jury ausgezeichneten stillen Films: Musik wird nur punktuell, aber markant eingesetzt, ansonsten vertraut Musaoglu auf Naturgeräusche wie das Plätschern von Wasser oder das Rauschen der Bäume im Wind, die in Kombination mit den Bildern in diese Welt eintauchen lässt, deren Langsamkeit unserem schnellen Lebensrhythmus diametral entgegengesetzt ist.

Ein Leichtgewicht ist im Vergleich zu diesen Filmen "23 Segundos", den die Jury mit dem Hauptpreis des "Newcomer of the Year" auszeichnete. Hautnah geführte bewegliche Handkamera und ein überzeugender Hauptdarsteller ziehen den Zuschauer zwar in die Geschichte des leicht zurückgebliebenen Emiliano hinein, der in exakt 23 Sekunden die Windschutzscheiben von Autos an den Ausfallstraßen von Montevideo reinigt, doch insgesamt pendelt das Langfilmdebüt des in der Ukraine geborenen Uruguayaners Dimitry Rudakov doch unentschlossen zwischen Komödie und Drama, zwischen romantischen Träumen und Krimispannung.

Aber auch außerhalb des Internationalen Wettbewerbs konnte man in Mannheim Entdeckungen machen. Das Zeug zum Crowdpleaser hat beispielsweise die libanenische Komödie "Ghadi", die auch mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Amin Dora erzählt darin von einem Musiklehrer, dessen behinderten Sohn die Bewohner des Viertels in ein Heim abschieben wollen, da er mit seinem Schreien sie immer wieder stört.

Um das zu verhindern, verkündet der Lehrer, dass sein Sohn ein Engel sei und die Wünsche der Menschen erfüllen würde, wenn sie sich bessern und der Friseur nicht mehr überhöhte Preise verlangt, der Metzger die Kunden nicht mehr betrügt und ein dritter nicht mehr seine Frau verprügelt. So bessern sich einerseits die Menschen, andererseits gehen auch die Wünsche der Bewohner des Viertels in Erfüllung.

Die Komödie, die mit viel Witz für Toleranz gegenüber und Akzeptanz von Außenseitern plädiert, überzeugt durch flotte und einfallsreiche Erzählweise, prägnante Typenzeichnung und präzise Verankerung im Milieu und gewinnt sein Publikum auch durch Warmherzigkeit und einen Glauben an die Überwindung des Negativen und den Sieg des Guten, der an die Filme Frank Capras erinnert, für sich.

Wie man dagegen amerikanische Genremuster auf afrikanische Verhältnisse übertragen kann, zeigt Simon Mukali eindrucksvoll in "Veve", der wie schon "Nairobi Half Life" im Rahmen von Tom Tykwers Afrika-Initiative "One Fine Day Films" entstand.

Veve ist der Slang-Ausdruck für das Rauschmittel Khat, mit dessen Handel man in Kenia große Profite machen kann. Amos hat sich damit ein kleines Imperium aufgebaut, denn die Bauern beutet er aus und die bestochene Polizei lässt ihn ungehindert agieren. Jetzt will er in die Politik einsteigen, gleichzeitig aber auch den Veve-Handel durch Zusammenarbeit mit einem Bauunternehmer ausbauen.

Souverän verknüpft Mukali mehrere Handlungsstränge, erzählt dynamisch und kraftvoll und kann dabei auch auf eine starke Besetzung vertrauen. – Differenziert und tiefschürfend mag das kaum sein, bietet aber handwerklich perfekt gemachtes, mitreißendes Kino, dem man ansieht, dass hier westliches Know-How und Geld drinnen steckt.