62. Berlinale: Familiengeschichten

"Sister" heißt der internationale Titel von Ursula Meiers "L´enfant d´en haut". Während dieses starke Schweizer Sozialdrama aber gerade vom Fehlen einer echten Familie erzählt, sind Familienbande in Billy Bob Thorntons "Jayne Mansfield´s Car" umso präsenter.

Als schlecht gewählt muss man den internationalen Titel von Ursula Meiers zweitem Spielfilm bezeichnen. Denn wo der Originaltitel "L`enfant d´en haut" neutral bleibt und den Fokus auf den Jungen richtet, stellt der internationale Titel "Sister" eine bestimmte verwandtschaftliche Beziehung her. Vom Absurd-Surrealen ihres Debüts "Home" hat sich die Westschweizerin in ihrem zweiten Spielfilm weit entfernt, unweigerlich fühlt man sich dafür immer wieder an die Dardenne-Brüder erinnert.

Wie das belgische Regie-Duo richtet Meier den Blick auf sozial am Rande stehende junge Menschen, wie diese folgt sie ihrem 12-jährigen Protagonisten Simon hautnah mit einer beweglichen Kamera. In jeder Szene ist dieser von Kacey Mottet Klein großartig gespielte Junge präsent, allein schon seine Augen vermitteln viel von seiner Verlorenheit, aber auch von seiner Sehnsucht nach Geborgenheit und Nähe.

Eltern scheint er keine zu haben, allein lebt er mit seiner älteren Schwester Louise in einer tristen Hochhauswohnung. Man würde erwarten, dass sich die Ältere um den Jüngeren kümmert, doch hier ist es genau umgekehrt. Sie hat gerade den Job verloren, Simon beschafft mit dem Verkauf von geklauten Skis und Wintersportaccessoires das zum Leben nötige Geld.

Wenn er vom Skigebiet in der Höhe immer wieder mit der Bahn zur Wohnung im Tal fährt, dann findet Meier damit ein treffendes Bild für die soziale Kluft. Ganz beiläufig wird so dem Freizeitvergnügen der Beistzenden der nackte Überlebenskampf des Jungen gegenüber gestellt. Doch nicht nur an materieller Not, sondern wohl mehr noch an fehlender Zuneigung und Geborgenheit leidet Simon. Eine Kindheit gibt es für ihn nicht, wie ein Erwachsener muss er schon handeln und statt Gefühlen dominiert der Geldaustausch, sodass er sogar schon seine Schwester fürs Kuscheln bezahlt.

Meier betont aber nichts besonders, entwickelt vielmehr alle Aspekte dieses Lebens am Rande der Gesellschaft aus der Geschichte heraus. Wunderbar beiläufig und reich an Zwischentönen wird "Sister" dadurch, endet nicht ohne Hoffnung, aber offen, im wahrsten Sinne in der Luft hängend, gewinnt auch durch die Ansiedlung in einem filmisch selten verwendeten Milieu Überzeugungskraft und berührt durch den genauen Blick auf die Welt und das Leben zutiefst.

Im Gegensatz zu "Sister" ist die Familie in Billy Bob Thorntons "Jayne Mansfield´s Car" geradezu übermächtig präsent, doch nie und nimmer würde sich der alte Jim Caldwell (Robert Duvall) sich zugestehen seinen Söhnen gegenüber Gefühle zu zeigen.

1969 in Alabama spielend kann Thornton klassische Ressentiments gegen Yankees und alles Fremde einbringen, kann vom gesellschaftlichen Umbruch mit Hippie-Jugend und Vietnamprotest erzählen, gleichzeitig an die traumatischen Erfahrungen der Großväter- und Vätergeneration im Ersten und Zweiten Weltkrieg erinnern.

Zusätzliches Spannungsfeld wird aufgebaut, als die Nachricht eintrifft, dass die von Jim längst getrennt lebende Frau Naomi in England gestorben ist. In Alabama will sie begraben werden, sodass ihr Mann mit Familie aus Übersee anreist. Zu den innerfamiliären Reibungen und dem Generationenkonflikt, kommt damit auch noch ein kultureller, denn selbstverständlich haben die Caldwells eine feste Meinung über die Engländer.

Mit viel Liebe zum Detail in Kostüm und Ausstattung erweckt Thornton in dieser gelassen erzählten Familiengeschichte einerseits die späten 60er Jahre zum Leben, hält aber auch wunderbar stilsicher die Balance zwischen ernsten Momenten und Komik. Vertrauen kann er dabei auf ein starkes Ensemble, das angeführt von Robert Duvall, John Hurt und Thornton selbst mit sichtlicher Lust bei der Sache ist. – Große Filme schauen zwar anders aus, aber ein Kleinod, das viel Wärme in den kalten Wettbewerb der Berlinale bringt, ist dieser sehr menschliche und mit viel Empathie auf menschliche Schwächen blickende Film dennoch.