Der Schweizer Film findet längst nicht mehr nur in der Schweiz statt, sondern führt Regisseure und Figuren immer öfter in die Fremde. So begleitet Nicolas Steiner in seinem Dokumentarfilm "Above and Below" außerhalb der Gesellschaft lebende Amerikaner durch ihren Alltag, schickt Mano Khalil in seinem Spielfilm "Die Schwalbe" eine Schweizerin auf eine Spurensuche in das irakische Kurdistan und Stefan Jäger Mathias Gnädinger in "Der große Sommer" nach Japan. An ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte erinnert dagegen Michael Schaerer in "Lina".
Während eines einjährigen Aufenthalts in den USA stieß Nicolas Steiner auf Obdachlose, die im Kanalsystem unter Las Vegas wohnen, ebenso wie auf Dave, der in der Wüste von Utah in einem ausrangierten Militärbunker lebt. Dazu kommt noch eine Gruppe von Menschen um die Irakkriegsveteranin April, die ebenfalls abgeschieden in der Wüste von Utah leben und dort in Raumanzügen sich fürs Leben auf dem Mars vorbereiten.
Lange erfährt man nichts über die Biographie der fünf Randständigen, die im Mittelpunkt von "Above and Below" stehen. Steiner beschränkt sich darauf sie durch den Alltag zu begleiten, zu zeigen, wie sie die einen Wüstenlandschaften in Raumanzügen erkunden, wie Dave in den Sand mit Flaschen eine Botschaft an Gott schreibt, wie Cindy und Rick sich mit Abfall im Untergrund von Las Vegas ihre Behausung einrichten.
Auch die Glitzerwelt sieht man erst spät in einer nächtlichen Totale der Wüstenstadt. Doch Steiner will kein deprimierendes Bild vom Leben am Rande zeichnen, sondern mit seinem Film gerade auch diesen Menschen ihre Würde geben, zeigen, dass auch sie Respekt verdienen, und das Schöne im Schäbigen sichtbar machen, ohne dieses Leben zu beschönigen und zu verklären.
Dies gelingt dem Walliser in seinem Abschlussfilm für die Filmakademie Baden-Württemberg einerseits durch einen ruhigen und unaufgeregten Erzählrhythmus, der den Menschen und den Bildern Zeit lässt, andererseits durch die großartigen Wüstenbildern und drittens durch eine Montage, die, unterstützt von einer großartigen Musik, teilweise schon furios die drei Erzählstränge verknüpft und dem Film mitreißende Kraft verleiht.
So sehr Steiner dabei auch auf Kommentar verzichtet und in Direct Cinema Manier seine Protagonisten beobachtet, so sehr macht er doch in dieser Montage das Inszenierte sichtbar. - "Above and Below" will kein sachlicher Dokumentarfilm sein, sondern mischt eben dokumentarische Beobachtung mit kunstvoller filmischer Inszenierung.
Mano Khalil hat dagegen nach zahlreichen kurzen und den zwei langen Dokumentarfilmen "Unser Garten Eden" und "Der Imker" mit "Die Schwalbe" seinen ersten Spielfilm gedreht. Doch der Eröffnungsfilm der heurigen Solothurner Filmtage kann nicht überzeugen.
Gut gemeint ist es sicher anhand der Geschichte einer Schweizerin, die nach 28 Jahren entdeckt, dass ihr kurdischer Vater nicht im Kampf gegen Saddam gefallen ist, sondern noch im irakischen Kurdistan lebt und sich auf die Suche nach ihm macht, Einblicke in die Situation in dieser Krisenregion zu bieten, doch die Figuren bleiben schematisch, die Geschichte vorhersehbar.
Wenig glaubwürdig ist, dass sich auf der Reise durch Kurdistan, die vorbei an Militärkontrollen, einem syrischen Flüchtlingslager, einem zerbombten Palast Saddams und – immer wieder – durch malerische Landschaften führt, die junge Schweizerin und ihr deutsch sprechender kurdischer Begleiter, der freilich andere Ziele verfolgt, näher kommen.
Nicht aus der Handlung heraus entwickeln sich hier die Einblicke in das von Diktatur und Krieg zerstörte Land, sondern die Handlung dient vielmehr allein dazu dem Zuschauer Einblick in das Land zu bieten und bleibt folglich papieren.
Im Gegensatz zu diesem bedrückenden Film schlägt Stefan Jäger im letzten Film mit dem im April 2015 verstorbenen Mathias Gnädinger heitere Töne an. Wenn in "Der große Sommer" dieser Vollblutschauspieler mit ellenlanger Filmographie als ehemaliger Schwingerkönig einen etwa zehnjährigen Halbjapaner nach dem Tod seiner Großmutter nach Japan begleiten muss, ist ein Culture-Clash vorprogrammiert.
Wunderbar harmonieren Gnädinger und der kleine Loic Sho Güntensperger zwar, aber dieses Roadmovie ist letztlich nur auf harmlose Witzchen aus, lotet den Culture-Clash nicht aus. Das Spiel mit Gegensätzen, auf das eine den Film einleitende Parallelmontage schon einstimmt, zieht sich zwar mit altem Mann und Junge, Schweiz und Japan durch den Film, doch Jäger macht wenig daraus. Szene reiht sich an Szene, aber ein überzeugender dramaturgischer Aufbau fehlt.
Als deutlich schwergewichtiger entpuppte sich da schon Michael Schaerers "Lina". Die erstmalige Begegnung der etwa 60jährigen Bäuerin mit ihrer Enkelin Valerie und ihrem Sohn Daniel weckt traumatische Erinnerungen an ihre Jugend in den späten 1960er Jahren. Mit Valerie lässt Lina auch den Zuschauer mit ihrer Biographie vertraut werden. Man lernt sie in ihren Erinnerungen als lebensfrohen Teenager kennen, der aber durch seine Herkunft aus einer sozial schwachen Familie und die Liebe zum rebellischen Sohn eines Kapitalisten im konservativen Dorf aneckt.
Von den Behörden wird sie schließlich in ein Heim eingewiesen und nach einer Flucht von ihrem Liebhaber getrennt und in das berüchtigte Frauengefängnis Hindelbank eingeliefert, wo ihr ihr Kind nach der Geburt genommen und sie es zur Adoption freigeben musste.
Konventionell ist dieser Fernsehfilm zwar inszeniert, etwas schematisch und schulbuchmäßig mag trotz sorgfältiger Rekonstruktion die Schilderung der damaligen Verhältnisse und Stimmung sein, dennoch entwickelt "Lina", der an Stephen Frears "Philomena" ebenso wie an Christian Froschs Heimfilm "Von jetzt an kein zurück" erinnert, dank starker Schauspieler und konsequenter Entwicklung der Handlung große emotionale Kraft.
Eindringlich wird an diesem aus vielen realen Schicksalen entwickelten Einzelschicksal exemplarisch ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte ans Licht gezerrt und - gerade durch die Kontrastierung von einst und jetzt mittels Rückblenden - erfahrbar gemacht, wie junge Frauen damals gebrochen, ihr Leben auf immer zerstört wurde.