100 Jahre Neue Sachlichkeit in der Schweiz

Das Kunst Museum Winterthur präsentiert in der Ausstellung „Reflexionen aus dem beständigen Leben” figurative Malerei von drei Schweizer Kunstschaffenden, die sich durch ihren klaren Blick und ihre neue, scheinbar sachliche Darstellung auszeichnen: Niklaus Stoecklin, Liselotte Moser und Louisa Gagliardi.

Während der Basler Niklaus Stoecklin (1896–1982) zu den Wegbereitern und Protagonisten der Neuen Sachlichkeit zählt, ist die zehn Jahre später geborene Luzernerin Liselotte Moser (1906–1983) eine weitgehend unbekannte Künstlerin, die es zu entdecken gilt. Das Schaffen dieser beiden historischen Figuren wird durch den zeitgenössischen Beitrag der jungen Walliserin Louisa Gagliardi (* 1989) reflektiert und in die Gegenwart überführt.

Ihnen allen ist ihr scharfer Blick auf die Welt gemein, ebenso ihre sorgfältige an malerische Traditionen anknüpfende Arbeitsweise, die sie zu einer jeweils ganz eigenständigen figurativen Kunstsprache führte – eine Sprache, die sich auf den ersten Blick schnell erschließt, bei genauerer Betrachtung jedoch Tiefgründiges und Verborgenes offenbart und zum Nachdenken einlädt.

Der Titel der Ausstellung referiert auf Theodor W. Adornos wichtige Schrift „Minima Moralia”, die den Untertitel „Reflexionen aus dem beschädigten Leben” trägt. Adorno schrieb dieses Hauptwerk im amerikanischen Exil. Er setzt sich darin mit den Bedingungen des Menschseins im 20. Jahrhundert auseinander, ähnlich wie es unsere drei Künstler:innen in der Ausstellung tun. Während Adorno das Leben jedoch vor dem Hintergrund der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs als „beschädigt” ansah, versteht die Ausstellung die Malerei des 20. Jahrhunderts als eine „beständige” Reflexion über Realitäten und Realismen – ohne deren Veränderungen aus den Augen zu verlieren.

Als 1925 in Mannheim die vom Kunsthistoriker und Museumsdirektor Gustav Hartlaub kuratierte Ausstellung Neue Sachlichkeit eröffnet wurde, war Niklaus Stoecklin der einzige nichtdeutsche Künstler, dessen Werke dort gezeigt wurden. Er hatte mit seiner neuen Malerei für Aufsehen gesorgt, da er die Formen und Farbexperimente des Expressionismus hinter sich gelassen und aus dem Kubismus schöpfend eine neue Deutlichkeit und Klarheit des Ausdrucks erreicht hatte. Mit seinen frühen Hauptwerken Casa rossa (1918) und Vorstellung (1920–1921) ebnete er den Weg für eine Kunstrichtung, die sich an den alten Meistern der Gotik orientierte und daraus eine neue Bildsprache erschloss. Diese bot nach den Verwerfungen des Ersten Weltkriegs wieder mehr Orientierung und Halt und wurde zur Kunst der 1920er-Jahre. Gerade diesen frühen Hauptwerken wohnt etwas Rätselhaftes, ja Surreales inne, ein leiser Klang des Verborgenen, der hinter der Fassade der scheinbar deutlich lesbaren Darstellung liegt. Bei Betrachtung dieser Malerei wundert es nicht, dass die künstlerische Strömung auch den Namen „Magischer Realismus” erhielt.

Liselotte Moser ist mit dieser Kunst aufgewachsen. 1906 in Luzern geboren, übersiedelte sie im Alter von 20 Jahren in die USA, wo ihre Mutter Adèle Coulin Weibel als Kuratorin der Textilabteilung des Detroit Institute of Arts tätig war. Unter dem Einfluss der Neuen Sachlichkeit in Europa in ihrer Jugend und später unter dem Eindruck des Amerikanischen Realismus entwickelte Moser ihren eigenen sachlichen Zugang zur Welt. Da sie an Kinderlähmung erkrankt war und deshalb nur sehr eingeschränkt mobil sein konnte, entwickelte sie eine scharfe Beobachtungsgabe für ihre Lebensrealität. So gehören Stillleben, Selbstporträts und Blicke aus ihrem Fenster zu den typischen Motiven ihres Schaffens. In ihren Werken sind subtile Zwischentöne zu vernehmen, und nicht selten kann man eine leichte Gesellschaftskritik erkennen, die auch vor dem eigenen Abbild nicht haltmacht und den Arbeiten somit eine geradezu existentielle Tiefe verleiht.

Bei Louisa Gagliardi geht es stets um gesellschaftliche Fragen und Themen des alltäglichen Lebens sowie deren Reflexion. Sie verhandelt diese mit zeitgenössischen Medien. Ihre Bilder entstehen nicht mit dem Pinsel auf der Leinwand, sondern mit dem Cursor am Bildschirm: Sie scannt ihre Skizzen, zeichnet sie digital nach, erstellt mit Photoshop ein Bild, druckt es auf PVC und veredelt es mit Gel, Glitter oder Lack. Damit lotet Gagliardi die Grenzen und Möglichkeiten der Malerei aus. Trotz ihrer zeitgenössischen Arbeitsweise steht sie in der Tradition der figurativen Malerei, wie sie Félix Vallotton und die Neue Sachlichkeit geprägt haben. Gleichzeitig spielt sie auf generelle Fragen an, die mit Bildproduktion, Digitalisierung, Wahrheit und Fake im 21. Jahrhundert virulent sind. Mit ihren nüchtern-distanzierten, zugleich spektakulären Bildern erweitert Gagliardi den historischen Schwerpunkt der Ausstellung und verortet ihn im Hier und Jetzt.

Reflexionen aus dem beständigen Leben
Niklaus Stoecklin, Liselotte Moser, Louisa Gagliardi
Bis 8. Februar 2026
Kunst Museum Winterthur | Reinhart am Stadtgarten