10 000 Steine in Frankfurt

Umformungen, Kontextverschiebungen, räumliche Inbesitznahmen – sehr rasch verraten Michael Sailstorfers Arbeiten das Interesse des Künstlers an den Dingen des Alltags und den Materialien der unmittelbaren Umgebung sowie seine Faszination für die spezifische Identität und Geschichte dieser Objekte. Sailstorfer nimmt sich seine Gegenstände regelrecht vor, sie werden zerlegt, auseinandergenommen, deformiert, adaptiert, neu zusammengesetzt und zu poetischrealistischen Installationen umgedeutet. Dabei ist sowohl der Raum, den sie einnehmen, als auch der Raum, der sie umgibt, von essenzieller Bedeutung. Er wird zum Spannungsfeld so gegensätzlicher Begriffe wie Heimat und Ferne, Mobilität und Stillstand, Bewegung und Vergänglichkeit.

Die Ausstellung in der Schirn zeigt fünf Arbeiten, die das poetische, politische und ironische Vokabular des Künstlers eindrucksvoll präsentieren. Speziell für die Schirn entsteht Sailstorfers große Lichtinstallation "Untitled (Junger Römer)", die vom "Tisch" – einem Betongebilde im Außenraum der Schirn – in den Stadtraum leuchtet. Erstmals wird außerdem die bisher nur als Fotodokumentation bekannte Installation "Wohnen mit Verkehrsanbindung" in einen Ausstellungsraum transportiert und dem Publikum zugänglich gemacht.

Bereits auf dem Weg in die Schirn empfängt den Besucher die Lichtinstallation "Untitled (Junger Römer)", die Nachbildung einer alten DDR-Reklametafel mit rhythmisch blinkendem Leuchtprogramm. Der Titel des mächtigen, acht Meter langen Leuchtröhrengerippes, das an exponierter Stelle im Außenraum der Schirn montiert ist, ist eine Abwandlung des Songtitels "Junge Römer" des österreichischen Musikers Falco. Gleichzeitig spielt er auf den benachbarten "Römer", das historische Frankfurter Rathaus, an. Das Original der Tafel, Aushangschild eines Radiosenders der ehemaligen DDR, befindet sich noch heute als Reklame-Ruine hoch über den Dächern von Berlin-Mitte.

Für die Schirn hat Sailstorfer seinem Neonröhrenobjekt ein Leuchtprogramm verpasst, wie es zu DDR-Zeiten über Berlin geblinkt haben könnte. Auf horizontalem Linienmuster strahlen zwei Kreise ihre Farben wellenförmig nach außen ab und münden in einem bunt leuchtenden Finale. Mit dem Falco-Titel versehen, pulsierende Schallwellenmuster ausstrahlend und inmitten der Frankfurter Altstadt platziert, vollzieht dieses psychedelisch anmutende "Quasi-Readymade" eine für Sailstorfer typische Metamorphose: In ihm verbindet sich die Erinnerung an eine Musik, die vom Lebensgefühl der 1980er Jahre zeugt, mit der Erinnerung an einen Staat, der nicht mehr existiert, um an einem ganz anderen Ort etwas Neues entstehen zu lassen.

Im Innenraum der Schirn spuckt eine kinderwagengroße Maschine munter Popcorn aus, das den Raum nach und nach zur Gänze ausfüllen wird. Ihr Name "1 zu 43 bis 47" bezeichnet das Größenverhältnis der Oberfläche eines Maiskorns zu der eines ausgewachsenen Popcorns, das mit seinen Faltungen, Ein- und Auskerbungen und Krümmungen die endlose Vielfalt des Werdens darstellt. Während von der einen Ecke der Duft frischen Popcorns ausströmt, dreht in der anderen Ecke ein breiter Autoreifen seine Runden und konfrontiert den Besucher mit dem Geruch von abgefahrenem Gummi. Michael Sailstorfer ersann den "Reifen" während einer Stippvisite in Yokohama beim Anblick eines Reifenlagers. "Zeit ist keine Autobahn – Frankfurt", so der für die Schirn-Ausstellung adaptierte Titel dieser neuen Version, stellt die Bewegung des Reifens der Unbeweglichkeit des Raums gegenüber: Ein Gummireifen ist derart an der Wand befestigt, dass er beim Drehen gegen die Wand schabt und sich von Umdrehung zu Umdrehung selber auffrisst. Enormer Energieaufwand verpufft geräuschvoll im Nichts – eine Kunstanstrengung in der Tradition von Sisyphus und Don Quixote, ein Schicksal, die uns mit der eigenen Lebenszeit und den eigenen Taten konfrontiert und mit absurder Komik gegen die Grenzen des Möglichen revoltiert.

Die Serie "Wohnen mit Verkehrsanbindung" hinterfragt den Widerspruch von Mobilität und Zuhause. Ursprünglich als temporäre Installation an bayerischen Landstraßen entstanden, ist sie einer von Sailstorfers zahlreichen skulpturalen Eingriffen in den öffentlichen Raum. Vier Bushaltestellenhäuschen in den Orten Anzing, Großkatzbach, Oberkorb und Urtlfing hat der Künstler für dieses Projekt mit einfachen Möbeln und Haushaltsgeräten – Bett, Tisch und Stuhl, Regal, Spüle, Herd und Kühlschrank –, elektrischem Licht und Toilette ausgestattet und dadurch zu einer voll funktionsfähigen minimalen Wohneinheit "vervollständigt". Bisher konnte diese Arbeit, die Sailstorfer direkt nach ihrer Fertigstellung wieder rückgängig machte, lediglich anhand dokumentierender Schwarz-Weiß-Fotografien gezeigt werden. Für die Ausstellung in der Schirn hat der Künstler die Bushaltestellen von ihrem angestammten Platz entfernt und erneut mit Möbeln bestückt. Erstmals werden die Häuschen, die an ihrem Herkunftsort Teil des Verkehrsnetzes sind, in Reih und Glied in einer Ausstellung gezeigt. Hinter ihnen erstreckt sich nun nicht mehr die bayerische Landschaft, sondern die direkt vor der Schirn inmitten der Stadt gelegene karolingische Ausgrabungsstätte.

Vielleicht sollen die historischen Überreste auch auf die 10 000 Steine anspielen, um die es in Paul Austers "The Music of Chance" geht und von denen sich der Ausstellungstitel ableitet. Austers Roman erzählt von der wahnwitzigen Idee der beiden Lotto-Millionäre Flower und Stone, ein aus 10 000 Steine bestehendes Schloss aus England auf ihrem Grundstück in den USA durch den ehemaligen Feuerwehrmann Jim Nashe und den bankrotten Pokerspieler Jack Pozzi als Mauer neu errichten zu lassen. Eine transformatorische Leistung, die ihre Opfer fordern sollte.

Sailstorfers Bezugnahme auf sein jeweiliges Umfeld stellt eine Konstante in seinem Werk dar. Der Künstler, der im bayerischen Velden/Vils im Landkreis Landshut aufwuchs, am Londoner Goldsmiths College ausgebildet wurde und heute in Berlin lebt, geht dabei sehr spielerisch vor. Vertraute Zeichen des ländlichen Lebens wie robuste Holzhütten, ein Baumhaus im Garten oder einfach nur Landschaft und Wald treten in seinen Arbeiten ebenso natürlich wie ironisch auf. Gerade die Idee einer einfachen Behausung in ländlicher Umgebung findet sich immer wieder in Arbeiten wie in "Wohnen mit Verkehrsanbindung" oder in den aus Wohnwagen- und Flugzeugschrott zusammengebastelten Häuschen von "D-IBRB" (2001) oder "Heimatlied" (2001/2002). Dabei stammen die dem Alltag entrissenen Objekte, mit denen der Künstler seine transformatorischen Experimente treibt, nicht selten von Flugzeugen oder von Autos; sie stehen nun aber still oder bewegen sich nur mehr auf der Stelle und lassen Ideen von Sesshaftigkeit und Mobilität, Heimat und Freiheit kollidieren.

Auch die ebenfalls in der Ausstellung gezeigte Videoarbeit "Ohne Titel (Lohma)" von 2008 zeigt ein Haus – ein Haus, das atmet. Langsam und bedrohlich weitet sich der blecherne Körper, als wollte er platzen und sämtliche Eingeweide in die schneebedeckte thüringische Landschaft hinausschleudern. Stattdessen kehrt sich die Bewegung um. Dem aufgeblasenen Gebäude geht plötzlich die Luft aus, es zieht den Bauch ein und scheint zu ersticken. Erneuter Schnitt, es erholt sich und bläht sich wieder auf und so weiter. Auch wenn dieses Haus aus unlackiertem Wellblech, ohne Türen und Fenster ein wenig an die einsame und friedliche Blockhütte von Henry David Thoreau – dem amerikanischen Schriftsteller und Philosophen, der sein einfaches Leben in den Wäldern in Verbindung mit Gedanken über Gesellschaft und Wirtschaft beschrieb – erinnert, es lebt in einem künstlichen Gleichgewicht nahe an der Katastrophe. Tatsächlich hat die Katastrophe längst stattgefunden: Zum Leben erweckt wurde das Haus nämlich durch die zerstörerische Kraft einer Explosion in seinem Inneren – einer Explosion, die der Betrachter jedoch nicht sehen, sondern nur erahnen kann.

Zerstören, transformieren, erweitern, demontieren und immer wieder neu zusammensetzen sind die Gestaltungsprinzipien von Sailstorfers Arbeit. Dass dabei immer auch die Zerstörung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens angezeigt wird, ist der melancholische Grundton in seinen Kompositionen, ein Grundton, über dem auch absurde Akkorde erklingen können.


Zur Ausstellung erscheint ein Katalog. Herausgegeben von Matthias Ulrich und Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein und einem Text von Matthias Ulrich. Deutschenglische Ausgabe, ca. 70 Seiten, ca. 45 Abbildungen, Softcover, Verlag der Buchhandlung Walther König, ISBN 978-3-86560-465-1. EUR 14,90 (Schirn).

10 000 Steine
28. Mai bis 31. August 2008