«Durch Wände und Schichten. Querschnitte in Kunst und Wissenschaft»
Was kommt zum Vorschein, wenn etwas einfach mittendurch geschnitten wird? Die Ausstellung der Graphischen Sammlung ETH Zürich zeigt mannigfaltige Antworten auf diese zutiefst menschliche Frage. Geliefert werden sie gleichermassen von Forschenden wie von Kunstschaffenden. Ihre Werke verdeutlichen, wie der Schnitt als das Darstellungsprinzip des Einblicks schlechthin funktioniert und ganz nebenbei – oder mit voller Absicht – die Betrachter mit unerwarteten Farb- und Formenwelten des Inneren verblüfft.
Wer wissen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, schneidet sie am besten auf. Kathedralen, Schädeldecken, Schiffsbäuche, Höllenkreise, Fruchtknoten, Vulkane, Raupen oder ganze Bergketten – dem neugierig forschenden Schneiden kann sich nichts und niemand entziehen. Ob quer, ob längs, Hauptsache mittendurch! Präsentiert wird die geöffnete Welt in Bildern, in Modellen oder am Untersuchungsobjekt selbst. Um solchen Wissensdurst löschen zu können, hat die Kuratorin, Susanne Pollack, nicht nur aus dem Bestand der Graphischen Sammlung entsprechende Werke ausgewählt. Hinzu treten bedeutende Leihgaben aus insgesamt acht anderen Sammlungen und Archiven der ETH Zürich: zum Beispiel das Clastique-Modell eines Pferdekopfes (Haustieranatomische Sammlung), die Achatscheibe von Thomas Manns Schreibtisch (Thomas-Mann-Archiv) oder ein Profilrelief des Säntisgebirges, das die beiden Professoren Arnold Escher und Albert Heim mit bemerkenswerter Genauigkeit im 19. Jahrhundert anfertigten (Erdwissenschaftliche Sammlungen).
Die Methode, mithilfe eines glatten Durchschnitts Gewissheit über die Beschaffenheit oder die Funktionsweise von Diesem oder Jenem zu erlangen, ist untrennbar mit der Wissensvermittlung durch Bilder verbunden. Es gibt grundsätzlich keinen Querschnitt, der nicht irgendeine Information bereithielte, Querschnitte sind per se wissende Bilder. Für viele Wissenschaften war und ist der Querschnitt daher ein beliebtes Vehikel zur Visualisierung der errungenen Erkenntnisse. Diese weitverbreitete Nutzung spiegelt sich in all jenen Werken der Ausstellung, die klar einem bestimmten Fach zugeordnet werden können. Dazu gehören Schnitte durch Gebäude, etwa von den Architekten Gottfried Semper (1803-1879), Le Corbusier (1887-1965) oder Peter Zumthor (*1943); Schnitte durch den menschlichen Körper, mit denen etwa der Mediziner Jean Marc Bourgery (1797-1849) im 19. Jahrhundert seine Zeitgenossen ebenso schockierte wie faszinierte und die es an Genauigkeit durchaus mit den gezeigten MRT-Scans nach neuester Technik aufnehmen können.
Auch die Biologie ist reich vertreten, zum Beispiel mit akribisch gezeichneten Schnitten durch unzählige Apfelsorten, einen Termitenhügel, Muscheln, Pilze, oder durch exotische Früchte, auf denen etwa die Wegbereiterin der modernen Insektenkunde, Maria Sibylla Merian (1647-1717), ihre Schmetterlinge präsentierte. Selbstverständlich fehlt auch die Ingenieurskunst nicht, die hier durch einen im Querschnitt gezeigten Brunnen aus dem 1588 erschienenen Traktat Le diverse et artificiose machine del Capitano Agostino Ramelli vertreten wird.
Die Werke der Ausstellung erzählen in exemplarischer Weise viel vom symbiotischen Verhältnis zwischen Kunst und Wissenschaft. Während Forschende zur Verbildlichung ihrer Erkenntnisse auf etablierte Methoden, Techniken und Inszenierungsstrategien der Kunst zurückgreifen, eignen sich Kunstschaffende die spezifische Bildsprache der Wissenschaften in einer Weise an, die nicht selten einer Enteignung gleichkommt. Auf technische Zeichnungen rekurrierend, zeigt etwa ein auf Millimeterpapier gedrucktes Bild von Tomi Ungerer (1931-2019) eine komplexe Konstruktion aus Schienen, Federn und Rädchen. Sie verbindet eine halbierte Frau mit dem von ihr geschobenen, ebenfalls halbierten, Kinderwagen und dient keinem geringeren Zweck als den in der Vagina der Frau befindlichen Dildo beim Laufen in Bewegung zu versetzen.
Oder Regula Dettwiler (1966): Sie zeigt eine Magnolia made in China und präsentiert die Plastikblume konsequent in der zergliedernden Manier von Herbarien, bei denen der Querschnitt durch Teile der Pflanze einen festen Platz innehat. Der amerikanische Konzeptkünstler Matt Mullican (1951) nutzte für seine in der Ausstellung gezeigten Ölkreide-Frottagen Matrizen nach den Illustrationen aus der zwischen 1808 und 1830 erschienenen Edinburgh Encyclopædia. Wie in allen Enzyklopädien der Aufklärung ist auch hier der Querschnitt eine besonders häufig angewandte Bildform. Durch die alle Grauabstufungen schwärzende Abriebtechnik konterkariert er das Wesen von Schnitt-Bildern und ihre ureigene Funktion, Bilder der Ein-Sicht zu sein. Und gleich drei Künstler sind in der Ausstellung vertreten, die einen Querschnitt als Druckplatte verwenden: Peter Emch (1945) druckt quergeschnittene Bäume ab (Abb. 2), Ian Anüll (1948) einen halben Kohlkopf und Stefan Gritsch (*1951) seine über viele Jahre Schicht für Schicht aufgebauten und anschliessend zersägten Acrylvolumina.
Die Ausstellung der Graphischen Sammlung zeigt Werke, die einfach nicht still sein können. Jedes von ihnen verrät die Geheimnisse einer im verborgen liegenden Innenwelt. Unterstützung erhalten sie von Kunstschaffenden sowie von den Kuratorinnen und Kuratoren der Sammlungen und Archive, die ihre Schätze zur Verfügung stellen: Von ihnen gesprochene Tonspuren zu ausgewählten Werken können von den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung über einen QR-Code abgerufen werden.
Durch Wände und Schichten. Querschnitte in Kunst und Wissenschaft
2. Mai bis 30. Juni 2019
Eröffnung: Di 30. April 19, 18 Uhr
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