Lasst hundert Blumen blühen

Not Vitals komplexes Œuvre beruht weitgehend auf Erfahrungen aus dem eigenen Leben und einem feinen kulturellen Gespür; oft bewegt es sich im Spannungsfeld zwischen tief persönlichen und politischen Realitäten. Im Zusammenhang seines Schaffens ist einerseits die Kindheit des Künstlers zu berücksichtigen, die er in der abgeschiedenen Bergwelt des schweizerischen Engadintals verbrachte, andererseits das Nomadendasein, dem er sich als junger Mann verschrieb und das ihn in die Peripherien der Welt geführt hat.

Dieser unermüdliche Reisedrang hat in jedem Sinn viel zu seiner Arbeit beigetragen – materiell, thematisch und Kooperationen betreffend. Derzeit lebt Vital je nach seinen künstlerischen Projekten in Sent (Engadin, Schweiz), New York City, Patagonien, Agadez (Niger) und Beijing.

Seit 2008 verbringt Vital fünf Monate im Jahr in seinem Atelier im Beijingeer Stadtbezirk Coachangdi. Dort lernte er außerordentlich kunstfertige und kreative Edelstahlhandwerker kennen. Die Installation "Lasst hundert Blumen blühen", die aus 100 jeweils etwa drei Meter langen Edelstahl-Lotusblüten besteht, wird in einer Fertigungsstätte am Stadtrand von Beijing hergestellt. Der Edelstahl wird nicht gegossen, sondern von Hand gearbeitet. Dieser komplizierte, mühevolle und langwierige Prozess ist ein wichtiger Bestandteil des Werks und ergibt eine besonders glatt polierte Oberfläche, die stark spiegelt.

Der Titel der Installation ist zugleich poetisch in seiner romantischen Bildsprache und absolut in seiner gebieterischen Weisung. Er bezieht sich auf den Slogan eines kurzlebigen Propagandafeldzugs, den Mao Zedong 1956 auf den Weg brachte.

Wie bei allen Arbeiten Vitals gibt es viele verschiedene Zugänge zu "Lasst hundert Blumen blühen", vom philosophischen bis zum formalen. Anschaulich wird dieser Deutungsreichtum etwa in der Aussagekraft, die in Vitals Verwendung von geschlossenen statt geöffneten Blütenknospen liegt. Diese gewiss nicht zufällige Entscheidung erzeugt eine Anmutung von Zurückhaltung, Bedrückung und Abschottung. Die Blumen liegen Seite an Seite, erscheinen dabei jedoch als autarke Einheiten, einander räumlich nahe und doch durch ihre in sich geschlossene Form voneinander getrennt.

Der Betrachter könnte auf einen Moment warten, an dem diese Knospen aufspringen, sich ihrer gebundenen Gestalt widersetzen. Dieser Eindruck von potenzieller Bewegung, ja Sprengung verleiht der rätselhaften Installation Spannung und Dynamik. An der Installation, die aus der Form ebenso wie aus menschlicher Erinnerung und Assoziation erwächst, fällt aber auch auf, dass die Blumen geschnitten und über den Boden verstreut sind, so dass Gedanken an Gewalt, Verstümmelung und Vertreibung aufkommen.

"Lasst hundert Blumen blühen" stellt das Publikum in einen geschichtlichen Kontext und Raum zum Nachdenken über die heutige Welt. Mechanismen des Missbrauchs von Autorität und Macht, Unterdrückung von Völkern und Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenrechten können einem in den Sinn kommen. Die Installation spielt mit der Idee von Mikrokosmos und Makrokosmos. Aus der Zusammenlegung von 100 einzelnen Lotusblüten entsteht eine gewaltige Masse, die eine metaphorisch wie politisch geballte Wirkung entfalten dürfte. Alma Zevi

Lasst hundert Blumen blühen
13. April bis 3. Juni 12

Kuratorengespräch mit Edelbert Köb