Bier.Macht.München

Das Münchner Stadtmuseum zeigt anlässlich des 500-jährigen Jubiläums des Reinheitsgebotes in Bayern die Ausstellung "Bier.Macht.München". In einer umfangreichen und über 700 Objekte versammelnden Schau werden zu einem der bedeutendsten Industriezweige und wesentlichen kulturellen Quellen der Stadt Geschichten erzählt und Fragen diskutiert. "Bier.Macht.München" thematisiert Produktion und Konsum von Bier und legt dabei den Schwerpunkt auf die Entwicklung ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.

In keiner anderen Großstadt scheint die Stadtgeschichte so eng mit der Bierkultur verwoben wie in München. Deshalb hebt schon der Ausstellungstitel drei Aspekte hervor: „Bier macht München“ in einem formenden und damit städtebaulichen Sinne. Zudem ist Bier auch immer schon mit der städtischen Verwaltung engstens verbunden, angefangen von den Braugerechtsamen des Mittelalters bis hin zu den heutigen Politikern, die gegenwärtig jede Wirtshauseröffnung begleiten. Darüber hinaus entwickelte sich München im Laufe der Industrialisierung ab den 1870er Jahren zu einer globalen Biermacht.

Über die Jahrhunderte hinweg besaßen die Braustätten und ihre Verlegung an andere Orte in der Stadt großen städtebaulichen Einfluss – und besitzen diesen bis heute. Während um 1600 innerhalb der mittelalterlichen Stadtmauern etwa 74 bürgerliche Brauereien ihren Standort hatten, schrumpfte diese Zahl im Laufe des 19. Jahrhunderts erheblich. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges verblieb kaum mehr als eine handvoll Brauereien in München. Voraussetzung für die Entwicklung im 19. Jahrhundert war nicht zuletzt die 1803 im Kurfürstentum Bayern abgeschlossene Säkularisierung sowie die Einführung der Gewerbefreiheit 1868.

Der Wettbewerbsdruck erhöhte sich. Und während die Stadt beinah so schnell wuchs wie der Bierausstoß der Brauereien, stellte sich unter diesen ein Konzentrationsprozess ein: Wer im Preiskampf nicht mithalten oder sich die neuesten technischen Errungenschaften nicht leisten konnte, wurde aufgekauft oder vom Markt verdrängt. Die so entstehenden Großbrauereien benötigten Platz. Viele von ihnen zogen an den damaligen Stadtrand, rund um den neu entstehenden Hauptbahnhof. Einerseits erleichterte dies den an Bedeutung gewinnenden Export, schließlich war der heimische Markt bald gesättigt. Andererseits bestanden an den kleineren Anhöhen an Arnulf- und Marsstraße, sowie rund um die Schwanthalerhöhe einige Sommerbierkeller. Die Brauereien besaßen dort also bereits Grund, auf dem sie, mit einigen Zukäufen, ihre gewaltigen modernen Produktionsstätten errichten konnten.

Die neuen, von sogenannten Bierbaronen errichteten Industriepaläste waren bald als stolze Repräsentationsbauten auf Postkarten gedruckt in ganz Europa zu finden. Persönlichkeiten wie Gabriel Sedlmayr ist es zu verdanken, dass München in den Jahren zwischen 1860 und 1890 industrialisiert wurde – zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt, dafür aber in hoher Geschwindigkeit. Die Bierbarone, meist aus traditionellen Brauerfamilien stammend, nutzten die Möglichkeiten des modernen Kapitalismus, indem sie nicht nur in ihre Betriebe investierten, sondern auch Konkurrenten aufkauften. Investitionen flossen dabei sowohl in technische als auch in wissenschaftliche Neuerungen.

Durch die Zusammenarbeit zwischen Sedlmayrs Spatenbräu und dem Wissenschaftler Carl Linde entstand so die erste Maschine, die künstliche Kälte produzierte. Dank dieser Kältemaschine und Louis Pasteurs Entdeckung der Auswirkungen von Hefe auf den Brauprozess konnte nun auf das Genaueste steuerbar, über das ganze Jahr hinweg in großen Mengen Bier hergestellt und gelagert werden. Diese Entwicklungen gelten als Grundlage der neueren Bierkultur und des Brauereiwesens. Im Blick zurück markieren sie zugleich die Zeitpunkte, an denen das Bierbrauen das Mythische verlor und stattdessen zunehmend rationaler und im großen Maßstab ökonomisiert betrieben wurde.

Die großen Brauereien, die sich in wenigen Jahren von Kellerwirtschaften zu Unternehmen entwickelt hatten und teilweise hunderttausende Liter Bier im Jahr verkauften, standen in enormer Konkurrenz. Umso höher der Konkurrenzdruck wurde, desto wichtiger erschien es, sich als qualitätvolle Marke zu präsentieren. Als späte Folge der Gewerbefreiheit verabschiedete der Deutsche Reichstag 1874 das „Gesetz über Markenschutz“. Damit waren markenrechtliche Grundlagen geschaffen, die einen Schutz des eigenen Produktes und ein modernes "branding" ermöglichten. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Spatenbrauerei sich ihr bis heute unverändert bestehendes Signet bereits 1883 hat eintragen lassen. Besipielsweise ist das farblich sehr ähnliche Coca-Cola-Zeichen einige Jahre jünger.

Eine zentrale Rolle in der Außenwirkung des Bieres über die Stadtgrenzen hinaus spielte Hofbräu. Schon 1879 hatte man die Initialen HB mit der Krone schützen lassen. Nun vermarktete sich die Brauerei mit der Traditionsgaststätte Hofbräuhaus nicht nur als Ort des Bierkonsums, sondern war auch alsbald auf Postkarten und Souvenirs omnipräsent. Die Ausstellung belegt, dass München durchaus auch wegen seines Bieres und der Brauereien zu einem touristischen Ziel avancierte.

Bier konnte man von 1880 an nicht nur zunehmend auf Werbetafeln finden, es wurde endgültig zum Aushängeschild der Stadt. Das Münchner Kindl, mit Palette und Krug steht für das säkularisierte wie industrialisierte moderne München als „Stadt des Bieres und der Kunst“. Dass das Kindl zwischen bierbrauendem Mönch und der bierbringenden Kellnerin Coletta nun immer häufiger in der Darstellung und Wahrnehmung zu verschwimmen schien, lag wohl auch an den immer besser funktionierenden "marketing tools", welche die beiden zu Gallionsfiguren einer sich neu erfindenden Stadt machten.

So erklärt sich, weshalb Bier in London, Paris oder Berlin Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt in einem sich als münchnerisch verstehenden Rahmen ausgeschenkt wurde. Überall in Europa entstanden Bierpaläste nach Vorbild der Münchner Originale, oftmals betrieben und versorgt durch die Brauereien an der Isar. Als Beispiel für die Popularität des Münchner Bieres gilt die Berliner Kindl Brauerei: trotz des für preußische Ohren fremd klingenden Begriffs wählte man das Kindl aufgrund des Münchner Vorbilds aus, um auf die besondere Qualität des Bieres hinzuweisen. Der Ausstoß der Münchner Brauereien stieg nach der Jahrhundertwende noch einmal an. Bald lautete die Devise auf den Werbebannern der Löwenbräu AG: „Kein Erdteil ohne“. Auf den Weltausstellungen waren die Münchner Brauereien vertreten und gewannen Medaillen für ihre Erzeugnisse. In Anzeigen wurde das Bier mit Ozeandampfern und Kamelen präsentiert. Das Münchner Bier ist nun endlich ein maßgebliches und weltweit gehandeltes Exportprodukt.

Das Bier ist in München immer auch als Stoff des sozialen Miteinanders zu betrachten. Und so zeigt die Ausstellung nicht nur Produktion und Entwicklung, sondern auch die Orte des Konsums, das damit verbundene Personal, die sozialen Implikationen des Rausches sowie die Feste, die das Münchner Jahr nach Bieren zu sortieren scheinen. Bereits in den Reiseberichten des frühen 19. Jahrhunderts wird beschrieben, dass Bier an der Isar eine ganz andere Rolle spielte, als beispielsweise an der nördlichen Elbe. Der Münchner trinkt in geselliger Runde und zwar in der Öffentlichkeit, also im Wirtshaus, im Bierkeller oder Biergarten. In nördlicheren Gefilden, so wurde berichtet, schien der Konsum vornehmlich im privaten Raum stattzufinden. Schon alleine deshalb sind die Begriffe "Bier" und "Macht" in München untrennbar miteinander verbunden; weil natürlich dort, wo eine Gemeinschaft anzutreffen ist, schneller politisiert und öffentlich diskutiert wird.

Aber nicht nur politische, sondern auch andere soziale Entwicklungen lassen sich im Wirtshaus studieren. Das dortige Personal nimmt einige moderne Bewegungen in den Großstädten vorweg. Oft waren die Kellner mobile Arbeitnehmer, teilweise als Saisonarbeiter beschäftigt, und sie arbeiteten in einer Branche, die man heute dienstleistungsorientiert nennt. Die Kellnerinnen lebten einzig vom Trinkgeld und waren für ihre Anstellung oftmals vom Land in die Stadt gezogen. Sie kämpften um ihre Rechte und Freiheiten, die ihnen als selbstständige Sub-Unternehmerinnen ständig beschnitten wurden. Ihre finanzielle Situation war so prekär, dass sie sich um 1900 nebenbei als Prostituierte ihr Zubrot verdienen mussten und ein Drittel der rund 2.500 Münchner Prostituierten ausmachten.

Auf der anderen Seite standen die in Abhängigkeit von den Brauereien lebenden Wirte. Auch wenn ihnen oftmals die Immobilien der Wirtschaften gehörten, mussten sie den Brauereien eine festgelegte Menge an Bier abnehmen, eine Praxis, die bis in die Gegenwart Gültigkeit besitzt. Rund 310 Liter Bier trank der Münchner durchschnittlich im Jahre 1910 und wusste wenig über die gesundheitlichen Folgen. Die Arbeiterbewegung trat hier parallel zu den Arbeitgebern als Aufklärer auf. Während es den Gewerkschaften um die Gesundheit ihrer Mitglieder und deren Schlagkraft bei Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner ging, wollten die Arbeitgeber mit nüchternen Arbeitnehmern in der Regel die Produktivkraft steigern. Die ambivalente Rolle des Alkohols als Stifter von sozialer Befriedung im Sinne eines "Soma" für das bayerische Volk soll nicht außer Acht gelassen werden.

Als sich die politische Situation in München zwischen den beiden Weltriegen zuspitzte, entwickelten sich die Bierhallen zu Austragungsorten der Konflikte. Die Parteien trafen sich in den Gewölben, ließen vor den von Bier erhitzten Gemütern ihre Redner auftreten und nicht selten endete alles in brutalen Saalschlachten. In den Bierhallen, so scheint es, wurden Erfahrungen und Frustrationen aus den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges in Bier ertränkt oder in gewalttätigen Auseinandersetzungen fortgeführt bis ein neuer „Krieg“ als echtes Ventil herbeigeredet und geprügelt worden war. Der Hitlerputsch 1923 heißt im englischen Sprachraum nicht ohne Grund "Beer Hall Putsch"“.

In München wird nicht nur zu allen Festen Bier ausgeschenkt, viele der über die Monate verteilten Festtage sind erst durch ihr besonderes Bier zu entsprechender Bedeutung gekommen. So spannt sich über das Jahr ein eigener Bierkalender, der mit dem Salvator im Frühjahr beginnt, vom Maibock abgelöst, schließlich mit dem Märzen zur Oktoberfestzeit zu einem populären Höhepunkt geführt wird und mit einem besinnlichen Weihnachtsbier das Jahr beschließt. Aufgrund der Sondersude, aus denen die Spezialbiere gewonnen werden, ist die Biervielfalt in München groß – in der Regel sind die saisonalen Biere allesamt stärker eingebraut. Figuren wie der Pater Barnabas, historische Liedstücke wie der Bockwalzer oder das traditionelle "O"zapft is"“ werden dem Münchner Besucher bekannt vorkommen, schließlich sind sie aus der Biertradition der Stadt nicht wegzudenken.

Das Münchner Bier definiert sich durch das gemeinsame Trinken. Die Bierfeste der Stadt sind mit den Orten Bockkeller, dem Nockherberg und der Theresienwiese als kollektive Konsumstätten verknüpft. Aber diese werden ergänzt durch die großen Wirtshäuser, die kleinen Boazn, die Nachtclubs und Getränkemärkte. Die Ausstellung dokumentiert nicht nur eine große Zahl dieser Trinktempel. Sie gewährt den Besuchern auch einen Blick in die Mathäser Bierstadt – einst mit 4.000 Sitzplätzen das größte Wirtshaus der Welt – genauso wie über den Tresen des Atomic Cafés oder in eine traditionelle Gassenschänke. Jeder dieser Orte steht für eine besondere und traditionelle Art des Bierkonsums und für die ganz unterschiedlichen Konsumenten und Herstellungsweisen. Ein typisches Münchner Bier aus dem frühen 19. Jahrhundert war höchstwahrscheinlich relativ dunkel und eher obergärig, also ganz anders als das heute gerne so bezeichnete "Münchner Helle".

Die Ausstellung erzählt nicht nur die Geschichte des ältesten bis heute geltenden Lebensmittelgesetzes und des damit reglementierten Produktes, sondern sie veranschaulicht auch ganz allgemein die gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklungen, die sich von der bürgerlichen Kleinstadt hin zu einer sich zunehmenden und in neue Klassen aufteilenden Industriegesellschaft vollzogen hat, bis hinein in eine sich globalisierende und vernetzende Gegenwart. Das Bier ist im Fall Münchens der Treibstoff für diese Erzählung. Nicht nur, weil das Bier für die Münchner auch heute noch eine ganz besondere Bedeutung besitzt, sondern auch, weil sich in dem Werdegang des Bieres, des Brauwesens und der Bierkultur Entwicklungen nachvollziehen lassen, die für die Geschichte der Stadt, die Biographien ihrer Bewohner und also unsere Gegenwart von großer Bedeutung sind. Aus dieser Gegenwart werden nicht nur die Geschichte und Entwicklung der sich heute als „sechs Richtige“ beschreibenden Großbrauereien Hacker-Pschorr, Löwenbräu, Hofbräu, Augustiner Bräu, Spaten Bräu und Paulaner, sondern auch aktuelle Bewegungen betrachtet. Denn seit einigen Jahren entsteht wieder neues Bier in München. Eine sogenannte "re-evolution" lässt vergessene Bierformen wieder aufkommen und bringt ungekannte Bierstile nach München.

Kritisch geht es um die Frage, inwiefern das Bierbrauen als Handwerk im industriellen Maßstab auf dem Weltmarkt ernst genommen werden kann und was es noch gemein hat mit den bürgerlichen Brautraditionen des Mittelalters oder den Mikrobraureien, die in Bayern schließlich eine blühende Geschichte haben. Gegenstand der Diskussion ist auch, was Traditionen überhaupt bedeuten und wie sie sich manifestieren? Wie lange ist so ein natürlich gebrautes Bier wirklich haltbar – und warum darf ein Milk Stout eigentlich nicht Bier genannt werden? Das Potential zur Vielfalt, das im Reinheitsgebot auch heute noch steckt, wird pünktlich zu seinem 500-jährigen bayerischen Jubiläum diskutiert.


Bier.Macht.München
8. April 2016 bis– 8. Januar 2017