Die Vatersprache im Mutterland

In einer globalisierten Welt muss man polyglott sein, um erfolgreich kommunizieren zu können. Es wird vom intensivierten Konkurrenzkampf gesprochen, vom Politikum der Sprachen und ihrer Stellung in der Welt der Wirtschaft und Politik. Und dann auch der Kultur. Würden gegenwärtige, den Erfolgreichen vernünftig erscheinende Marktkriterien auf die Kultur übertragen, müsste die eigene Sprache, so sie nicht eine wirkliche Weltsprache ist, aufgegeben und die herrschende Erfolgssprache übernommen werden. Die Selbstaufgabe wäre vernünftig, weil sie die Welt öffnete und leichtere Verständigung und Geschäfte ermöglichte.

Im Politischen wären einige Konsequenzen zu ziehen: Kleinstaaten hätten sich aufzulösen, indem sie sich in grössere integrierten, die wiederum sich in noch grössere einschlössen, ähnlich dem unausweichlichen Fusionsprozess der erfolgreichen Unternehmen: Kleine können nicht überleben, den Grossen gilt die Zukunft.

Auch im Sozialen wirkt sich das aus, obwohl widersprüchlich: Es werden nicht Grossgruppen, wie frühere Clans gebildet, sondern Familienstrukturen erodiert; schliesslich fristen viele in Einpersonenhaushalten ihr Auskommen und trösten sich durch gesteigerten Konsum über die Tristesse hinweg. Auch hilft solchen Vereinzelten die Ökonomie mit mobilen Intensivarbeitsplätzen, immer und überall erreichbar durch Handy und wireless notebook. Arbeit macht frei. Wir leben in einer feien Gesellschaft.

Aber polyglott sind wir nicht. Welche Gesellschaft ist es wirklich? Viele, allzu viele, beherrschen nicht einmal ihre Muttersprache wirklich. Obwohl einige von diesen mehrere Sprachen sprechen, verstehen sie nicht unbedingt viel ihrer und anderer Kultur. Braucht es eigentlich eine gute Sprachbeherrschung? Ist sie nicht eher hinderlich?

Es ist wie mit dem Denken oder der Bildung: wer viel weiss, stösst sich leichter und schneller, braucht mehr Energie, um die regierende Dummheit auszuhalten, um den Betrug, der ihm klarer einsichtig wird, zu ertragen oder, in Erkenntnis der bedingten Ohnmacht, weiter "normal" zu bleiben, das heisst, nicht "durchzudrehen", nicht verrückt zu werden. Es überrascht nicht, dass die Mehrheit sich mittels der Massenmedien zudröhnt, wenn sie nicht gleich zu stofflichen Drogen greift.

Sprache ist Mittel und Ausdruck von Kultur. Sprache ist für jeden Lebensteil. Kein Mensch vermag sprachlos zu existieren. Sprache ist kein Luxus. Sie ist aber nicht simple Gegebenheit, sondern Resultat eines Sozialisationsprozesses und eigener Arbeit. Sie ist veränderlich. Sprache hängt mit Bildung zusammen. Ungebildete können kein tiefes Sprachverständnis haben. Halbgebildete nur ein Stückwerk, hergerichtet für das reguläre Durchkommen. Aber in der Durchkommgesellschaft reicht das, wird sogar belohnt.

Wer eine Sprache versteht, begreift viel der Kultur, welcher sie Tei ist. Wer mehrere Sprachen versteht, begreift viel mehrerer Kulturen. Was heisst "verstehen" und "begreifen"? Sicher mehr, als sich orientieren und verständigen zu können. Eine Sprache sprechen heisst noch nicht, sie beherrschen. Deshalb leben so viele in einer Kultur, ohne eigentlich "kultiviert" zu sein, das heisst, sprachmächtig verstehend zu sein. Das war eigentlich immer schon so. (Eine erfrischende, höchst empfehlenswerte Lektüre sind immer noch die "Parerga und Paralipomena" von Schopenhauer, zu diesem Thema besonders einige aus dem zweiten Band".)

In unseren Schulen ist "Deutsch" für viele ein lästiges Pflichtfach. Fremdsprachen versprechen zumindest einen Vorteil und Nutzen für spezifische Bedürfnisse: Ferien, Kontakte, Arbeitswelt. Aber die "Muttersprache"? In die ist man ohne viel eigenes Zutun hineingewachsen. Was soll da noch mühsam vertieft werden?

Sobald Reden oder Schreiben sich von der Masse abhebt, Qualität überm Mittelmass zeigt, kommt es nicht breit an, wird es verdächtig, muss es sich gar rechtfertigen. Es scheint unvernünftig, ja asozial, weil es den Empfängerkreis einengt und vielen Unzumutbares zumutet. Sozial korrektes Sprechen ist deshalb einfach und eindimensional multikulturell.

Sprache, Denken, Bildung. Ein komplexer Zusammenhang. Es ist kein Zufall, dass Un- und Halbbildung regieren, dass unsere sogenannten Bildungseinrichtungen nicht mehr bilden, wie man früher Bildung verstand, sondern trainieren für Kleinteilbereiche und Spezialisierungen. Und so wuchern Jargons und Pidginformen, die recht bequem das Durchkommen sichern.