Lesekompetenz

Während wenige von kommunikativer Kompetenz sprechen, ist der Begriff Lesekompetenz in vieler Munde, insbesondere seit den PISA-Studien und den oft hysterischen Reaktionen auf deren Resultate, die besonders die Leistungen unserer Jugendlichen als schwach ausweisen. Das etwas verkürzte, bornierte Quotendenken, das sich in oft hysterischer Reaktion auf den beklagten Missstand äußert, widerspiegelt dabei ironischerweise jenes Defizit, das Basis für die weit verbreitete Inkompetenz ist: Die Unfähigkeit, komplexe Sachverhalte adäquat rasch zu erfassen, die extrem frühe Ermüdung, die eine längere Aufmerksamkeitsspanne als drei Minuten schon als Hochleistung erscheinen lässt.

In der Kurzdenkgesellschaft mit ihrer Kurzsprech und Newspeak muss man Lesen wohl anders deuten als früher. Denn heute wirkt sich geringe oder fehlende Leekompetenz noch aus anderen Gründen negativ aus. Jemand, der wenig liest, kann trotzdem in unserer hoch technisierten Welt aktiv teilhaben, wenn er über andere Wege als gepflegte Lektüre jene abstrakte Denkfähigkeit entwickelt, die zum Verständnis komplexer Systeme notwendig ist. Dass Lesen so hoch in der Kulturbewertung liegt, hat historische Gründe einerseits, und das Naheverhältnis zur Technik andererseits. Denn ohne erhöhte Lesefähigkeit wäre es nie zu einer Hochentwicklung der Wissenschaften gekommen und allem, was daraus folgte.

Aber offensichtlich heißt das nicht, dass Wissenschaftler deshalb belesene, gebildete Leute waren oder heute sein müssten. Eher das Gegenteil war und ist der Fall: ihre Spezialisierung rückte das, was Schöngeister Literatur nennen, abseits. Auch orale Kulturen ermöglichten „Bildung“ und komplexes Denken. Davon wissen wir aber nur durch schriftliche Zeugnisse. Dass alte Philosophien uns heute noch wertvoll sind, beweist, dass es auch ohne Schriftkultur komplexes Denken gab. Das entscheidende Moment liegt hinsichtlich des Denkens nicht in der Schrift und im Lesen, sondern in der Abstraktion, im Denken, das sich in komplexen abstrakten Räumen kundig bewegt.

Mit der Technisierung, die diesem Denkvermögen entsprang, bildete sich allerdings eine neue Dimension, die für eine schiere (menschliche) Ewigkeit das Verständnis von Bildung prägte. Hohe Lesekompetenz war eine Bedingung. Mit dem technischen Fortschritt veränderte sich aber die ursprüngliche Bedeutung und Wichtigkeit, verlagerte sich sozusagen. Heute sind Wissenschaftler erfolgreich tätig, die nicht im alten Sinne lesen oder belesen sind. Klar, dass sie eine Lesekompetenz haben. Aber sie ist zielgerichtet. Entscheidend ist das Vermögen, ihr spezialisiertes Denkfeld zu beherrschen. Lesen ist nicht gleich Lesen.

Das heißt, wir müssten uns um geringe Lesekompetenz, wie sie derzeit gemessen und beklagt wird, nicht besorgen, wenn sichergestellt wäre, dass solche Personen ihr Denkvermögen „gebildet“, hoch entwickelt hätten. Die Fähigkeit, auf hohem Abstraktionsgrad Komplexitäten zu erfassen, bedingt keine übliche Lesekompetenz, sie fordert keine Teilhabe an Literatur. Dies ist jedoch nicht der Fall. In der Regel führt eine früh erworbene Lesekundigkeit zum Training jenes abstrakten Denkens, das, ganz allgemein gesprochen, die geistige Entwicklung fördert. Der Grund des herrschenden Leseunvermögens liegt auch nicht in der oft beklagten Ausrichtung auf Neue Medien (Computer, Internet, Smart Phones), sondern wurzelt darin, was man heute euphemistisch „Bildungsferne“ nennt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Kinder aus solchen Haushalten, zwar technisch etwas trainiert, doch zu jener Denkfähigkeit finden, die wir als unabkömmlich für Bildung halten. Umgekehrt gibt es keine Belege für das Gegenteil, dass Kinder aus „gebildeten“ Familien primär wegen deren Lesefähigkeit erfolgreich in der technisierten heutigen Gesellschaft reüssieren.

Die Bewertung hängt auch vom Bildungsbegriff ab. Bildung im Sinne der Aufklärung störte heute. Die vielbeschworene Lesekompetenz ist also zu hinterfragen und näher zu bestimmen.

Warum ist Lesen, ganz allgemein, dennoch wichtig und bedeutsam? Weil es für die Kultur einer Gesellschaft ausschlaggebend ist, dass nicht primär die Technik bestimmt und regiert. Keine Wissenschaft kann sich selbst begründen. Wir bedürfen auch anderer Werte, die nicht (nur) den Erfordernissen oder Diktaten der Technik und Ökonomie entspringen und folgen. Vernachlässigen wir diesen Kulturaspekt, unterminieren wir das Humane. Kultur aber ist kein Luxus, keine „Draufgabe“, keine periphere Drapierung. Wird sie das, mangelt ihr der Kern. Das Missverhältnis zwischen dem Stand der Technik, der daraus folgenden Ausrichtung der Wissenschaften und der Kultur ist einer der Hauptgründe für die paralysierende Wertekrise, an der alle hochentwickelten Gesellschaften heute leiden.

Es ist nicht so, dass eine hohe Lesefähigkeit das verhinderte, sondern umgekehrt. In einer Gesellschaft mit „gelebter“ Kultur wird neben der technischen Ausrichtung mit ihrer spezifischen Abstraktion die allgemeine, aktive Kulturübung zu einer höheren Lesekultur führen, weil nur sie das abdeckt, was keine spezialisierte Wissenschaft, keine Technik, keine Ökonomie liefern kann: das eigene, freie, allgemein abstrakte Denken, das Phantasieren, das „Spielen“ im Kopf. Heute hat sich dieses wichtige Spielen mehr aufs Technische verlagert. Kopfwelten schrumpfen.

Lesen hat nicht zuletzt mit Sprachkompetenz zu tun. Lesegehemmte sind wie Nichtschwimmer im Meer des Symbolsystems, sie können sich nur mit Hilfsgeräten, Rettungsringen, über Wasser halten. Leseschwache sind wie Stotterer, die zwar die Sprache einigermaßen beherrschen, aber gehemmt, eingeengt, holprig, stolpernd. Neben der offensichtlichen Misere, die zum Politikum wurde, müsste uns aber die spezifische Unkultur vieler „Gebildeter“ Sorge bereiten. Die hat aber nichts mit geringer Lesekompetenz zu tun, sondern einer kulturellen Inkompetenz, einer einseitigen, funktionalen Ausrichtung. Doch genau das streben unsere Politiken und Wirtschaften an. Ein Widerspruch, der den meisten nicht ins Gesichtfeld kommt.