Locarno 2009: "Summer Wars" – Ein Manga als Leoparden-Favorit

Mangas – also japanische Animationsfilme – sind das große Thema beim 62. Filmfestival von Locarno: Die Retrospektive ist dieser Filmgattung gewidmet, auf der Piazza Grande gabs eine Manga-Nacht und der Wettbewerb wird mit "Summer Wars" von einem Manga überstrahlt.

Die ganze Vielfalt des japanischen Manga kann man in Locarno studieren, kann Kurzfilme en masse genießen, mit "Kimba – The White Lion" (1966) die Vorlage zu Disneys "The Lion"s King" entdecken und sich nochmals an den Meisterwerken von Hayao Miyazaki, Mamoro Oshii oder Isao Takahata erfreuen.

Auch wenn die Manga-Nacht auf der Piazza mit bescheidenen 2500 Besuchern – der Durchschnitt liegt in der Regel bei über 5000, am Wochenende bei an die 8000 – auf nicht gerade allgemeine Begeisterung beim Publikum schließen lässt, so boten doch die verschiedenen Programmsektionen auch Einblick in die aktuelle Manga-Produktion und mit "Summer Wars" einen Film im Wettbewerb, der seine Realfilmkonkurrenten bislang überragt.

Da gab es auf der Piazza mit "First Squad: The Moment of Truth" eine krude Mischung, die keinesfalls jedermanns Geschmack sein dürfte. Erzählt wird in einer Kombination von animierten, weitgehend schwarzweißen Szenen und fingierten Interviews mit Kriegsveteranen, Historikern und Psychologen vom Zweiten Weltkrieg an der Ostfront. Ist dies formal schon reichlich gewagt, so wird es vollends absurd, wenn russische und nationalsozialistische Geheimdienste eingeführt werden, die mittels spiritistischen Kräften Mächte aus dem Jenseits - im speziellen Fall einem Baron des Deutschen Ritterordens, der 1242 in der Schlacht auf dem Peipussee fiel - reaktiviert werden sollen, um den Kampf für sich zu entschieden. – Zumindest gewöhnungsbedürftig ist dieses hirnrissige Szenario, perfekt gemacht und durchaus unterhaltsam ist der mit 70 Minuten erfreulich kurze Animationsfilm aber allemal.

Immerhin 114 Minuten lang – und keine davon ist zuviel – ist "Summer Wars", in dem Mamoru Hosada eine Familiengeschichte souverän mit der virtuellen Welt eines Internetspiels kombiniert. Von atemberaubendem Tempo und Detailreichtum ist hier nicht nur der Einstieg, in dem die Welt von Oz – bewusst sollen hier wohl Erinnerungen an "The Wizard of Oz" geweckt werden – vorgestellt wird. Nicht minder genau und vielschichtig ist Hosada aber in der Schilderung einer japanischen Großfamilie, die den 90. Geburtstag der Großmutter feiern will, dabei aber gestört wird, da die Welt durch Manipulationen des Spiels außer Kontrolle gerät und vernichtet zu werden droht.

Souverän entwickelt Hosada mehrere Erzählebenen, spielt mit dem Gegensatz von Tradition und Moderne, stellt auch durch unterschiedliche Zeichenstile der virtuellen Welt die reale gegenüber, wechselt genau getimt zwischen ruhigen gefühlvollen Momenten, Komik und Action, wartet immer wieder mit neuen überraschenden Wendungen auf und liefert im visuellen Einfallsreichtum ein Fest für die Augen.

Prägnante Figurenzeichnung mit einem Mix aus Alt und Jung, aber ganz ohne Superhelden und auch ohne einen einzelnen dominanten Protagonisten sowie die ganz in der Realität angesiedelte Familiengeschichte sorgen dabei dafür, dass dieses mitreissende, ebenso unterhaltsame wie vielschichtige filmische Feuerwerk durchaus auch ein Publikum, das mit dieser Filmgattung bislang nicht allzu viel anzufangen wusste, zu begeistern vermag. – Einsam ragt "Summer Wars" jedenfalls aus dem Wettbewerbsprogramm von Locarno heraus und ist – sofern die Jury, der unter anderem Nina Hoss angehört – Mangas nicht gänzlich ablehnt – bislang der grosse Favorit für den Goldenen Leoparden.