Übertriebener Minimalismus und Beglückendes aus Japan

Eines kann man dem Wettbewerb des 64. Filmfestivals von Locarno nicht vorwerfen: Mit beliebigen Allerweltsfilmchen wird man nicht abgespeist, jeder Film zeichnet sich durch Stilwillen und die Suche nach einer eigenen filmischen Sprache aus. Dass man es mit dem Minimalismus aber auch zu weit treiben kann, zeigen der dänische Film "Onder Ons" und der chilenische "El ano del tigre". Ein beglückendes Kinoerlebens bietet dafür der Japaner Aoyama Shinji mit seinem federleichten "Tokyo Koen".

"Peter und Ilse" titelt das erste Kapitel von Marco van Geffens "Onder Ons". Das genannte Ehepaar holt sich aus Polen ein Kindermädchen. Freundlich behandelt man die junge Ewa, doch zunehmend kommt es zu Konflikten mit der zurückhaltenden jungen Frau, bis Peter und Ilse sie wieder in ihre Heimat schicken. Ganz aus der Perspektive des Ehepaars in langen statischen Einstellungen erzählt, bleibt auch dem Zuschauer vieles im Verhalten Ewas unklar, doch Interesse für die Protagonistin wird geweckt und man hofft, dass sich in den folgenden Kapiteln die Rätsel klären und die Teile sich zu einem schlüssigen Bild fügen werden.

Konsequenterweise erzählt van Geffen im Folgenden dann auch nochmals diesen Zeitabschnitt aus der Perspektive eines anderen polnischen Kindermädchens, zu dem Ewa den Kontakt bald wieder abbricht, und schließlich aus der Sicht Ewas selbst. Manches wird im Zuge dieser Kapitel zwar klarer, doch insgesamt bleiben die Löcher in der elliptischen Erzählweise so groß, dass sich der Zuschauer das meiste selbst zusammenreimen muss und zu viel offen bleibt. Frustriert bleibt man folglich zurück, weil der Film nach viel versprechendem Beginn förmlich im Nichts verpuffte.

Nicht viel anders geht es einem mit "El ano del tigre", bei dem der Chilene Sebastián Lelio das Erdbeben und den Tsunami vom 27. Februar 2010 als Hintergrund benutzt – oder auch dafür missbraucht: Hautnah folgt die Kamera dem Häftling Manuel durch das Gefängnis. Die Katastrophe wird er für einen Ausbruch nützen, wird aber statt Frau und Kinder an der Küste nur zerstörte Häuser finden, sich laut dem den Film leitmotivisch begleitenden Lied auf eine Suche nach dem gelobten Land machen und doch nur Chaos finden, sodass er letztlich wiedeum seine Verhaftung provoziert.

Ausgesprochen dünn ist die erzählte Geschichte, die von Hand geführte Kamera beschränkt sich darauf dem Protagonisten zu folgen und dabei auch das Ausmaß der Zerstörung festzuhalten. Welche symbolische Bedeutung der Tiger hat, den Manuel aus einem Käfig freilässt, ihn sogleich aber fürchtet und ihn später erschossen auffindet, bleibt ein Rätsel. Blaupause zum Philosophieren kann dieses Bild aber ebenso sein, wie der ganze Film. Über die Gründe von Katastrophen, über das Eingreifen und damit freilich auch über die Existenz Gottes kann man hier ebenso sinnieren, wie über Freiheit und das Hineingeworfensein in eine chaotische Welt und die Sicherheit, die ein Gefängnis bietet.

Eine Wohltat und ein filmischer Genuss ist dagegen Aoyama Shinjis "Tokyo Koen". Vor 11 Jahren gelang dem Japaner mit "Eureka", in dem er in langen Einstellungen vier Stunden lang von den traumatischen Folgen einer Geiselnahme erzählte, ein Meisterwerk. Nach solch schweren Kost hätte man von Shinji kaum so einen leichten und verspielten Film erwartet, wie er ihn mit "Tokyo Koen" vorlegt.

Im Zentrum steht der junge Koji, der von einer Karriere als Fotograf träumt und in den Parks von Tokio heimlich Frauen und Familien fotografiert. Seltsam angezogen fühlt er sich besonders von einer Frau, die er zudem bald für einen Zahnarzt gegen Bezahlung fotografieren soll. Anders blickt er seit diesem Auftrag aber bald auch auf seine Jugendfreundin Miyu, die über den Tod ihres Freundes noch nicht hinweggekommen ist, oder auf seine Stiefschwester Misak.

Ein Wunder ist es schon, dass Tokio zwar im Titel vorkommt, aber man keine Großstadtbilder, sondern nur idyllische Parks sieht. Allein schon diese in warme herbstfarben getauchten Orte der Ruhe und Entspannung verleihen "Tokyo Koen" eine bezaubernde Atmosphäre, die durch die gelöste Erzählweise noch gesteigert wird. Ganz selbstverständlich ist hier der Geist des verstorbenen Freundes anwesend, wird eine Szene aus einem Zombie-Film oder ein kurzer Moment der Erinnerung eingeschnitten. So locker wie die fallweise eingesetzte Jazzmusik fließt dieser Film dahin, wechselt je nach bedarf zwischen langen statischen Einstellungen und schnelleren Schnittfolgen und schillert in den unterschiedlichen Beziehungen und ihrem Wandel mit einer ungeheuren breiten Palette an Liebes-Gefühlen.

Um Freundschaft und Geschwisterliebe geht es hier ebenso wie um Ehe, Liebe zu den Eltern oder Verlust eines Geliebten. So sanft und liebevoll ist Shinjis Blick dabei, dass man nach wenigen Sekunden vom Flair dieses sanften Films gefangen ist und ihm mit einem Lächeln zwei Stunden folgt. – Manche Filme zu sehen ist eben das pure Glück.