62. Berlinale: In Geiselhaft

Während Brillante Mendoza in "Captive" hyperrealistisch eine einjährige Entführung von Ausländern auf den Philippinen nachzeichnet, orientiert sich Frédéric Videau in "A moi seule" am Fall "Natascha Kampusch" und stellt Gefangenschaft und "Freiheit" danach einander gegenüber.

Schon in den ersten Bildern von "Captive" dringen vermummte Muslime in ein philippinisches Ferienresort ein und entführen zwölf Ausländer. Keine Erklärungen werden geboten, nur dieser Gruppe folgt der Film, die jeweiligen Szenen mit Inserts zu Ort und Zeit exakt verankernd, vom Mai 2001 bis zur gewaltsamen Beendigung der Geiselnahme im Juni 2002.

In einem Hyperrealismus, der an Kathryn Bigelows "Hurtlocker", aber auch an Mendozas bisherigen Filme erinnert, lässt der philippinische Regisseur den Zuschauer die Gefangenschaft hautnah erfahren. Man meint den niederprasselnden Regen fast im Kino zu spüren, durch unruhige Kamerabewegungen und nervösen Schnitt ist man mitten drin, wenn das Boot der Entführer von einer Patrouille kontrolliert wird, wenn es in und um ein Krankenhaus zum Schusswechsel mit dem Militär kommt und einerseits gestorben, andererseits ein Kind geboren wird.

Frenetisch ist der Beginn, lässt den Zuschauer kaum Atem holen, bis das Tempo ruhiger wird, weil wohl auch für die Gefangenen Bedrohungen durch die Natur wie durch Blutegel, Schlangen oder Bienenschwärme oder auch Gefechte mit dem Militär fast zur Alltäglichkeit werden und sich Beziehungen zwischen Entführern und Entführten entwickeln.

In der quasidkokumentarischen Nachzeichnung der Ereignisse lässt es "Captive" allerdings an Vielschichtigkeit vermissen. Mendoza beschränkt sich ganz auf die faktischen Ereignisse, lässt weder tiefer ins Leben und Denken der Entführer noch in das der Entführten blicken, und wagt nur einmal diese realistische Ebene zu verlassen, wenn Isabelle Huppert, die die gefangene Sozialarbeiterin Therese ganz ohne Starallüren spielt, in einem magischen Moment mitten im Dschungel einen farbenprächtigen Vogel sieht, der sich in die Lüfte erhebt.

So zieht sich dieses Entführerdrama trotz klarer und sehr geschlossener Handlungsführung sowie zupackender und kraftvoller Erzählweise mit zwei Stunden gegen Ende doch und es bleibt nicht viel mehr als die Erkenntnis, dass der Hauptschuldige die philippinische Regierung ist, die auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der Moslems auf Mindanao nicht adäquat reagiert und gegen Kidnapper ohne Rücksicht auf die Geiseln vorgeht.

Beruht "Captive" auf realen Ereignissen so betont Frédéric Videau im Vorspann explizit die Fiktivität von "A moi seule", doch unübersehbar sind Ähnlichkeiten zum Fall "Natascha Kampusch": Acht Jahre lang hat Vincent das Mädchen Gaëlle in seinem abseits gelegenen Haus gefangen gehalten. Als sie zehn war hat er sie vom Schulhof entführt, jetzt lässt er sie plötzlich frei, lässt Haus- und Gartentür offen.

Doch aus dem Gefängnis des Entführers kommt die junge Frau nur in andere Gefängnisse, zu Mutter oder Vater, deren Ehe nach der Entführung zerbrochen ist, und dann in die Psychiatrie. Parallel erzählt Videau von der Gefangenschaft und dem Leben danach, wechselt dabei auch zwischen der Perspektive des Opfers und des Täters.

Der ist hier kein Monster, schlägt Gaëlle weder noch missbraucht er sie, sondern erfüllt ihr alle Wünsche und lässt sich von ihr herumkommandieren – nur frei lässt er sie nicht.

Nicht festmachen lässt sich dabei auch die Beziehung, die sich im Laufe der Jahre zwischen Täter und Opfer entwickelt. Da versucht Gaëlle einmal zu fliehen, dann nutzt sie wieder die Chance ihren Entführer zu erstechen nicht, obwohl er diese dezidiert anbietet. Vincent wieder sieht in ihr einen Kindersatz und wünscht sich im Grunde nur, dass sich mit der Zeit zwischen ihnen eine liebevolle Beziehung entwickelt.

In der Sprunghaftigkeit der Gefühle und den fragmentarischen Szenen, aber auch in der Kälte die die desaturierten und kargen Winterbilder sowie der metallene Soundtrack ausstrahlen, ist "A moi seule" alles andere als leicht zugänglich, aber vielleicht gerade darin nahe am Unerklärlichen einer solchen Entführer-Opfer-Situation. Klar macht Videau jedenfalls, dass es für die von Agathe Bonitzer eindrücklich gespielte Gaëlle ein befreites Leben danach nur geben kann, wenn sie alle Brücken zum früheren Leben abbricht.