Crossing Europe 2017: Ausbruch aus der familiären Enge

30. April 2017
Bildteil

Kleine, aber feine Filme aus Ländern, aus denen kaum einmal ein Film den Weg ins reguläre Kinoprogramm findet, kann man beim 14. Crossing Europe Filmfestival Linz (25. – 30. April 2017) entdecken. Die Reise kann dabei von Kroatien über Moldawien bis Georgien führen.

Ein Märchen über eine schöne Prinzessin, die alle Verehrer abwies und sich nach der Hochzeit mit dem Sonnengott sehnte, diesen Wunsch aber mit dem Leben bezahlte, steht am Beginn von "Anishoara" der Moldawierin Ana-Felicia Scutelnicu. Eingeführt wird damit in diesen Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin das Thema der Sehnsucht, das die 15-jährige Titelfigur ergreift und antreibt.

Nur wenig spricht dieses Mädchen, das mit einem kleinen Bruder beim Großvater in einem Dorf im ländlichen Moldawien lebt. Und Scutelnicu entwickelt auch kaum eine Handlung, lässt sich vielmehr Zeit für die Schilderung des archaischen Lebens. In prächtigen, fast schon zu schönen Bildern fängt sie den Wechsel der Jahreszeiten vom leuchtend hellen Sommer über den verschneiten Winter bis zum Frühjahr ein.

Zumindest an der Grenze zum Folkloristischen wandelt der Film dabei mit dem Raum, den er Volksliedern und Landschaftstotalen des malerisch gelegenen Dorfes zugesteht. Mit dieser quasidokumentarischen Schilderung einer archaischen Welt verknüpft Scutelnicu in ihrem ruhig erzählten Film die mehr angedeutete als wirklich auserzählte Entwicklung Anishoaras.

Blickt sie im Sommer bei der Melonenernte nur interessiert auf einen Fremden, ohne dass es zu einem Kontakt käme, so weist sie im Herbst einen alten deutschen Touristen, der sich ihr nähert, entschieden zurück und erlebt im Winter eine erste unglückliche Liebe, die dazu führt, dass sie im Frühling selbst aktiv wird, selbstständig ihr Leben zu steuern beginnt und aus dem Dorf auf- oder ausbricht.

Förmlich spüren kann man die familiäre Enge in Hana Jusics "Quit Staring at My Plate", wenn die Kamera hautnah an der 24-jährigen Marijana klebt, die mit ihren Eltern und ihrem geistig etwas zurückgebliebenen Bruder in einer engen Wohnung lebt und immer noch mit ihrem Bruder in einem Zimmer schläft.

Nichts zu sagen hat Marijana, die im Labor des Krankenhauses arbeitet, zu Hause, denn der Vater gibt den Ton an, bis dieser nach einem Schlaganfall bewegungs- und sprachunfähig im Bett liegt. Mehr Freiheit gibt es für die junge Frau, die nur ganz wenig spricht, damit aber nicht, denn sie muss nun auch noch allein für den Lebensunterhalt der Familie aufkommen.

Eine neue Richtung bekommt ihr Leben aber, als sie einerseits einen Zweitjob annimmt, andererseits sich auf sexuelle Abenteuer mit Unbekannten einlässt. Ganz von ihrem Dorf lösen will sie sich schließlich, doch muss sie erkennen, dass es nicht so leicht ist die über zwei Jahrzehnte aufgebauten emotionalen Bindungen zu kappen.

Getragen von einer großartigen Mia Petricevic in der Hauptrolle zeichnet Jusic das zunehmend dichtere Porträt einer zutiefst unglücklichen Frau, die zerrissen ist zwischen der Bindung an die Familie und dem Streben nach einem eigenen befreiten Leben.

Unterschwelliger wird der familiäre Druck in "My Happy Family", der Georgierin Nana Ekvtimishvili und des Deutschen Simon Gross sichtbar. Mit ihren Eltern, ihrem Mann und ihren erwachsenen Kindern lebt die 52-jährige Lehrerin Manana in einer Wohnung in Tiflis. Keine größeren Probleme scheint es in dieser Großfamilie zu geben, dennoch erklärt Manana eines Tages, dass sie ein Apartment gemietet hat und ausziehen wird.

Auf Fragen nach dem Grund, gibt sie keine Antwort, doch spürbar wird, dass sie die Dominanz der Mutter, das Verfügen anderer über sie, wenn gegen ihren Willen eine Geburtstagsparty organisiert wird, satt hat und sich nach Freiraum, nach einem selbstbestimmten Leben sehnt.

Nichts Dramatisches passiert in "My Happy Family", aber wunderbar leichthändig und lebensecht fangen Ekvtimishvili/Gross die Familienszenen, in denen alle durcheinander reden in langen Einstellungen oft mit bewegter Handkamera ein und stellen diesen das selbstbestimmte Leben Marianas in ihrem Apartment, in dem sie aufblüht, gegenüber. – Hier zeigt sich wieder, dass manchmal ein genauer und mitfühlender Blick aufs Leben und ein starkes Ensemble für einen beglückenden Film ausreichen.