Räume des Wissens

"Mit dem Wissen wächst der Zweifel." Gerade in Krisenzeiten gewinnt Goethes Ausspruch an Aktualität. Während die Sicherheit einer absoluten Gewissheit bröckelt und irrationale Erklärungsmuster Hochkonjunktur haben, geraten die Ideale der Aufklärung an vermeintliche Grenzen. Dass Wissen nicht in Stein gemeisselt ist, wird schon lange diskutiert. Seit einigen Jahrzehnten ist zudem die Frage ins Zentrum gerückt, wie Wissen räumlich organisiert ist.

Die Ausstellung in der Graphischen Sammlung ETH Zürich knüpft an diese Diskussionen an. Sie lädt zu einer Auseinandersetzung mit den räumlichen Strukturen des Wissens ein und zeigt, wie unterschiedlich Gegenwartskünstler*innen – darunter Fiona Tan, Candida Höfer oder Luc Tuymans – damit umgehen.

Wo wird Wissen hervorgebracht, strukturiert, aufbewahrt und vermittelt? Wie kommen Ordnungsstrukturen in Architektur und Raumausstattung zum Ausdruck? Und umgekehrt: Wie stark definieren architektonische Gegebenheiten wiederum das Wissen, das eine Gesellschaft von sich und der Welt zu besitzen glaubt? Fragen nach der Rolle von Wissensräumen sind seit Ende der 1980er-Jahre zunehmend in den Fokus theoretischer Diskurse gerückt. Sie haben unser Bewusstsein dafür geschärft, dass die Auswahl, Organisation und Präsentation von Inhalten stets einen Einfluss auf deren Deutung haben. Auch Künstler_innen thematisieren in ihren Werken Wissensorte und machen darin versteckte Machtstrukturen sichtbar. So werden etwa Enzyklopädien, Archive oder Hochschulen in den Blick genommen und auf ihre Rolle in der Entstehung von Wissenssystemen befragt.

In der Ausstellung "Räume des Wissens" präsentiert die Graphische Sammlung ETH Zürich verschiedene künstlerische Zugänge zu Wissenskonzepten und ihren Ordnungssystemen. Verhältnisse zwischen physischen und virtuellen Sammlungsräumen werden ebenso ausgelotet wie die Beziehungen zwischen analogen und digitalen Schriftträgern.

So setzt sich etwa die Künstlerin Fiona Tan (geboren 1966) in ihrem Werk "Shadow Archive" (2019) mit Paul Otlets "Mundaneum" auseinander. Mit dem um 1900 entwickelten Projekt wurde kein geringeres Ziel verfolgt, als das gesamte Weltwissen an einem Ort zu speichern und jedem verfügbar zu machen. In Tans Bildern verwandelt sich das utopische Vorhaben, auch als "Papier-Google" bekannt geworden, in eine dystopische Szenerie.

Der Künstler Luc Tuymans (geboren 1958) wirft in seiner Arbeit "The Temple" (1996) ebenfalls Fragen nach der Inszenierung und Zugänglichkeit von Wissensbeständen auf. Dafür beschäftigt er sich mit dem grössten genealogischen Archiv der Welt, das Milliarden von Daten umfasst. Aufgebaut und betrieben von der Mormonischen Kirche, liegt es tief im Inneren eines Granitbergs. In seinen Darstellungen gewährt uns Tuymans seltene Einblicke in diese Räumlichkeiten. Er setzt allerdings auf Verschleierungs- und Verfremdungstaktiken, die beinahe zur Auslöschung jeglicher Bildinformation führen.

Verstrickungen zwischen einem Geist, der von Neugierde und Wissensdurst angetrieben ist, und im Verborgenen wirkenden Allmachtsphantasien liegen der Erzählung "Die Bibliothek von Babel" von Jorge Luis Borges zugrunde. Die als unendlich beschriebene, fiktive Bibliothek erfährt in Érik Desmazières (geboren 1948) Radierungen eine schaurig-schöne visuelle Umsetzung.

Dagegen nähert sich die Fotografin Candida Höfer (geboren 1944) mit einem nüchternen, distanzierten Blick Institutionen wie Hochschulen, Bibliotheken und zoologischen Gärten an. Sie zeigt uns beispielsweise die Innenräume der ETH Zürich, womit sie auch zu einer genaueren Betrachtung des lokalen Kontexts anregt.

Als roter Faden der Ausstellung scheint die Vorstellung von einer "Enzyklopädierbarkeit" des Wissens auf, die sich – und dies zeigen die Kunstwerke auf – jedoch als Trugschluss erweisen muss. Der Wunsch nach einem Wissen, das stabil ist, alles umfasst und das systematisch und möglichst einheitlich dargestellt werden kann, ist unerfüllbar. Ein universeller Überblick ist ebenso illusorisch wie die Vorstellung, dass sich die Komplexität der Welt bändigen und beherrschbar machen liesse. Es bleiben stets Bereiche des Ungewissen. Die Ausstellung möchte sich auch diesen Bereichen annähern – wissend, dass unser Erkenntnishorizont begrenzt ist und es Dinge gibt, die sich in ihrer Gesamtheit niemals ergreifen lassen.

"Räume des Wissens"
19. Mai bis 8. August 2021