Daniel Kehlmann begeisterte mit Eröffnungsrede beim Literaricum Lech

Selbsterkenntnis, Welterkenntnis und Beständigkeit – diesen drei anspruchsvollen Forderungen fühle auch sie sich verpflichtet, unterstrich Nicola Steiner als wissenschaftliche Leiterin bei der Eröffnung des 1. Literaricum Lech. Entnommen hat sie diese Leitgedanken dem "Simplicius Simplicissimus", dem berühmtesten deutschen Schelmenroman. Der Klassiker der Weltliteratur von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen wurde und wird während des Literaturfests in Lech am Arlberg (8. bis 10. Juli) aus verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet und diskutiert. Den Auftakt gab der österreichische Bestseller-Autor Daniel Kehlmann, dessen 2017 veröffentlichter Roman "Tyll" ebenfalls im Dreißigjährigen Krieg spielt und Anklänge an den literarischen Vorläufer erkennen lässt. So bot seine Eröffnungsrede neben der unterhaltsamen Nacherzählung auch aufschlussreiche Einblicke in poetologische Verfahren, die damals bahnbrechend waren und auch heute noch von Belang sind. Das Publikum im vollbesetzten Veranstaltungssaal des Hotel Sonnenburg in Oberlech zeigte sich über die von Kehlmann gebotenen Einblicke begeistert – und gespannt auf die weitere Spurensuche.

Ein Literaturfest, das sich nicht an aktuellen literarischen Strömungen oder Bestsellerlisten orientiert, sondern sich jenen Werken widmet, die den gnadenlosesten aller Kritiker – die Zeit – überzeugt, sprich die Zeiten überdauert haben. Die Idee zum Literaricum Lech stammt vom Vorarlberg Schriftsteller Michael Köhlmeier und dem ebenso renommierten Literaten und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott. Ersterer war vor einem Vierteljahrhundert auch der Ideengeber und ein Mitinitiator des Philosophicum Lech. "Ein großer Poet vermag es, uns das Innenleben eines Menschen auszuleuchten, wie wir es nicht für möglich gehalten hätten", offenbarte sich Köhlmeier als ein leidenschaftlicher Leser und gab zu Bedenken, dass bei der Lektüre der jeweilige Autor in gewisser Weise stets anwesend ist. Das gelte auch für den Barockdichter Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, dessen Hauptwerk "Simplicius Simplicissimus" beim 1. Literaricum Lech im Fokus steht – beziehungsweise dessen Leitstern ist, wie es Nicola Steiner formulierte.

Dass die schweizerisch-deutsche Kulturjournalistin – im gesamten deutschsprachigen Raum bekannt als Gastgeberin des Literaturclubs im Schweizer Radio und Fernsehen – die Programmleitung übernehmen sollte, stand von Anfang an fest, berichtete Köhlmeier, der auch die Vorstellung der vielseitigen Literaturvermittlerin in Nachzeichnung ihres eindrucksvollen Werdegangs übernahm. Nach dem Studium Generale in Passau arbeitete sie für verschiedene Verlage, darunter Hanser, und war für die Redaktion der renommierten Schweizer Kulturzeitschrift „Du“ wie auch für jene der bekannten Sendung „Sternstunde Philosophie“ des SRF tätig. Eine besonders schöne und wertvolle Erfahrung war es für sie, Daniel Kehl, dem Gründer des Diogenes Verlags, vorzulesen. Auch dabei handelte es sich um eine Übereinkunft von drei Personen, wie Köhlmeier betonte: der Vorleserin, des Zuhörers und des Autors.

Daniel Kehlmann war auf den persönlichen Wunsch von Michael Köhlmeier hin als Eröffnungsredner eingeladen worden, und er ist aufgrund seines eigenen Romans "Tyll" zweifellos der profundeste Spurensucher, was das Werk und Wirken von Grimmelshausen betrifft. Obendrein sei Kehlmann, so Nicola Steiner, "ein Erzähler, der mit allen Wassern gewaschen und dessen Herangehensweise an ein Thema stets von Neugier geprägt ist. Das allein schon verbindet ihn mit dem Simplicius". Damit kam sie auf den Charakter des Literaricum Lech zu sprechen, für dessen Programm sie verantwortlich zeichnet. "Wir werden uns fragen und darüber austauschen, ob und wie dieser Klassiker der Weltliteratur noch heute zu uns spricht und ob er uns als Leitstern noch immer eine Richtung zu geben vermag", gab sie einen Ausblick, indem sie die Mitwirkenden begrüßte. Beginnend bei den "Geburtshelfern" des Literaricum Lech Michael Köhlmeier und Raoul Schrott, wobei sich letzterer am Samstag dem Gilgamesch-Epos und in den kommenden Jahren weiteren Schlüsselmomenten der weltweiten Entwicklung der Literatur widmen wird.

Weiters begrüßte sie den Schweizer Literaturwissenschaftler Thomas Strässle, der sich mit der in Berlin lebenden Kulturwissenschaftlerin Katharina Teutsch über die Aktualität des Simplicissimus austauscht, wobei der Schauspieler Thomas Sarbacher einige Passagen des Klassikers zum Besten gibt. Ein weiteres Gespräch führt Teutsch mit Eva Profousová, die den Roman "Ein empfindsamer Mensch" des tschechischen Autors Jáchym Topol ins Deutsche übertragen hat, der mit seinen fantastischen und satirischen Momenten ganz im Zeichen des Simplicissimus steht. Schließlich unterhält sich Raoul Schrott mit dem deutschen Journalisten Wolfgang Bauer über das Thema Kriegsreportage, wobei Bauer erst vor zwei Wochen Afghanistan während des Abzugs der westlichen Truppen erlebt hat.

Bei der das heurige Literaturfest abschließenden Veranstaltung am 10.7. spricht Nicola Steiner mit der Georg-Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe über kindliche Neugier und Narrentum. Die Rede der wissenschaftlichen Leiterin war die offizielle Eröffnung des Literaricum Lech. Ihr folgte der rund einstündige Vortrag von Daniel Kehlmann, der es verstand, das Publikum mit großer Erzählkunst in seinen Bann zu ziehen. Unter dem Titel "Teutsche Sorgen oder Die Entdeckung der Stimme" gab er einen Einblick in das Gesamtwerk von Grimmelshausen und erläuterte u. a. Aspekte des pikaresken Romans als damals neue Gattung. Der Rückblick eines reuigen Sünders auf sein verfehlungsreiches Leben zur moralischen Belehrung des Lesers erlaubt es, allerhand Verwicklungen, Verwirrungen und vor allem unanständige Dinge zu erzählen, deren Erwähnung sonst verboten wäre. Es erlaubt zudem eine doppelte Erzählhaltung, indem das erzählende Ich zugleich für den ahnungslosen Kerl steht, der die Abenteuer erlebt, wie auch für den abgeklärten Menschen, der auf die Erlebnisse zurückblickt. "Eine Figur ist Illusion, eine Stimme ist real. Das Erzählen täuscht vor, die Stimme sei eine Funktion der Figur, aber in Wahrheit ist die Figur eine Funktion der Stimme. Was immer man gesehen, erfahren und gedacht hat, die Stimme kann es aufnehmen, kann es im wahrsten Wortsinn bewältigen", brachte Kehlmann den Zuhörern und Zuhörerinnen einen möglichen Beweggrund und zugleich einen poetologischen Kniff von Grimmelshausen für das Verfassen eines Romans über die Gräuel und das letztendlich auch Bizarre des Dreißigjährigen Krieges inmitten dieser unseligen Zeit zu bedenken. "Die Stimme ist flexibel, sie steht immer zu Gebote, sie versagt vor keinem Inhalt. Man ist in eine chaotische Welt geboren, man hat wieder und wieder alles verloren, es gibt nichts, dem man vertrauen kann, außer der Stimme." Dies war nur einer der reizvollen Denkanstöße des zeitgenössischen Schriftstellers, der sich rund 350 Jahre nach Erscheinen des Simplicissimus auf dessen Spuren an die literarische Gestaltung des "großen deutschen Krieges" in der und durch die Maske eines Narren, des deutschen Vaganten Tyll wagte. Wie Kehlmann beim anschließenden Gespräch mit Nicola Steiner erklärte, habe er nie das Gefühl gehabt, sich ausdenken zu müssen, was Tyll gerade sagt. "Ich hatte zuvor noch nie mit einer mythischen Figur gearbeitet. Diesen Tyll herbeizurufen hat sich angefühlt wie eine Beschwörung. Dass solch eine mythische Figur gleichzeitig vage und fertig zu einem kommt, war ein ganz seltsames Erlebnis“, vertraute der Autor ein ganz spezielles Überraschungsmoment beim Schreiben selbst den Literaturinteressierten an. Spannende Perspektiven und Erkenntnisse werden sich auch im weiteren Verlauf des Literaricum Lech eröffnen.