Die unterschätzte Horizontale - Das Gesims in Kunst und Architektur

In einer neuen Ausstellung in der Graphischen Sammlung ETH Zürich erhält das Gesims seinen längst überfälligen grossen Auftritt und wird in seinen vielfältigen Erscheinungsformen in Kunst und Architektur in den Fokus gerückt.

Das Gesims wird in der Architektur leicht übersehen. Omnipräsent als kunstvoller Übergang zwischen Dach und Wand, oder Wand und Decke, scheint dieses ornamentale Element in der Architektur, der Kritik und der Theorie weit weniger Aufmerksamkeit erfahren zu haben, als beispielsweise Säulen und deren klassischen Ordnungen.

Gesimse finden sich überall. Beginnt man nach ihnen Ausschau zu halten, wirkt ihre Omnipräsenz beinahe irritierend. Fenster, Türen, Decken, Spiegel und Wandverkleidungen aus allen Jahrhunderten weisen an ihren Rändern kunstvolle Profile auf. Die Trauflinie jeder Stadtstrasse stellt ein Sammelsurium von Gesimsen in verschiedensten Ausgestaltungen, Materialien und Wartungszuständen dar. Doch damit nicht genug: Autos, Kleidung, Möbel und Haushaltsgegenstände weisen ihre eigenen gesimsartigen Elemente auf. Streifen, Bänder und Linien aus Farbe wirken wie Gesimse, wenn sie Artefakte jeglicher Art einrahmen oder krönen. Dennoch erfahren sie weitaus weniger Aufmerksamkeit in der Architektur, der Kritik, der Theorie oder gar der breiten Öffentlichkeit als andere Gebäudeteile. Aus diesem Grund wird dieses unterschätzte architektonische Element in der Ausstellung in der Graphischen Sammlung ETH Zürich einer Neubewertung unterzogen.

Das Gesims, einst ein wesentlicher Teil jeder klassischen Architekturkomposition, zog zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Zorn der Modernisten auf sich. Es wurde verschiedentlich als der ausdrucksstärkste, aber auch als der problematischste Teil der Architektur bezeichnet. In Zeichnungen, Radierungen und Kunstwerken hat es immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Daher eröffnet die Geschichte des Gesimses in vielerlei Hinsicht eine neue Sichtweise auf die vielfältigen Geschichten der Architektur und ihrer Repräsentationen. So trägt das Gesims aufgrund seiner Allgegenwärtigkeit eine Vielzahl von Bedeutungsebenen in sich: als ein Element, das durch die Bauvorschriften definiert ist und diese selber bestimmt; als Lösung für das technische Problem der Verbindung von Wand und Dach; und als Ort des Ausdrucks sozialer Aspirationen oder Distinktionen. Als visuelle Begrenzung einer Konstruktion hat das Gesims genauso viel mit dem einzelnen Gebäude zu tun, wie mit der Stadt oder der Landschaft. Als Ornament an Gebäuden betrifft es Fragen des Geschmacks und der Ästhetik ebenso, wie Fragen des Handwerks und der industriellen Produktion. Als Bildgegenstand in zweidimensionalen Kunstwerken auf Papier erlaubt es uns, die kunsthistorischen Konventionen der Bildbetrachtung und Komposition zu erforschen. Und nicht zuletzt wirft das Gesims als komplexes dreidimensionales Objekt Fragen der kulturellen Repräsentation und der Kommunikation über Materialtransfers im Laufe der Zeit auf.

Die Ausstellung vereint eine einzigartige Auswahl von über 150 Zeichnungen, Drucken, Büchern und Objekten vom 15. Jh. bis heute, von denen einige zum ersten Mal in der Schweiz gezeigt werden. Zu den ausgestellten Autoren und Künstlern gehören neben vielen anderen Francesco di Giorgio Martini, Gottfried Semper, Frank Lloyd Wright und Le Corbusier. Wichtige Werke früherer Jahrhunderte aus den ETH-Sammlungen treten in einen direkten Dialog mit Leihgaben aus bedeutenden Institutionen im In- und Ausland, unter anderem aus der Fondation Le Corbusier, Paris, dem Louvre, der Biblioteca Nazionale Centrale di Firenze, dem Art Institute of Chicago, dem Canadian Centre for Architecture, Montreal, der Drawing Matter Collections (UK), den Staatlichen Museen zu Berlin sowie dem Museum Rietberg, Zürich. Dadurch wird die Ausstellung die "unterschätzte Horizontale" in fünf Jahrhunderten des Kunst- und Architekturschaffens sichtbar machen.

Die unterschätzte Horizontale - Das Gesims in Kunst und Architektur
25. August bis 14. November 2021
Kurator_innen: Eine Kooperation zwischen der Graphischen Sammlung ETH Zürich, Dr. Linda Schädler und der Professur für Geschichte und Theorie der Architektur, ETH Zürich, Prof. Dr. Maarten Delbeke