Tempel im goldenen Schnitt

Der Italienisch-Konservationskurs an der Piccola Universitá war auch Vorwand, einmal die ganze Woche in Triest zu verbringen. Beim einführenden Vortrag über die Sehenswürdigkeiten sticht der Tempio am Monte Grisa heraus. Am liebsten sprengen würden sie ihn, die Triestiener, erzählt der Stadtkundige. Dabei hat die monumentale Wallfahrtskirche, die spektakulär an der zum Meer hin abfallenden Karstkante steht, so eine innig-katholische Entstehungsgeschichte: Im Jahr 1945 legte der Bischof von Triest, Antonio Santin, das Gelübde ab, er liesse eine Kirche bauen, wenn die Stadt vor Zerstörung bewahrt werde. Fünfzehn Jahre später sollte dann die "grösste Mission Italiens" die Botschaft von Fatima vermitteln und in der Errichtung des "Santuario Nazionale a Maria Madre e Regina" am Monte Grisa gipfeln.

Die Statue "Unserer Lieben Frau von Fatima" machte sich von Sizilien aus auf Pilgerfahrt durch die 92 Provinzhauptstädte, die in Triest mit der Grundsteinlegung für den Tempel endete, im Gedenken an das Unbefleckte Herz Mariens und als Dank, dass die Heimat vor der Tyrannei des atheistischen Kommunismus bewahrt wurde. Die Madonnenstatue musste natürlich wieder zurück nach Fatima gebracht werden, Bischof Santin liess jedoch vom selben Bildhauer eine identische Kopie anfertigen.

Der Marientempel thront dramatisch, sichtbar von allen Städten, als Aufruf zur Vereinigung der Völker, 330 Meter über dem Meeresspiegel. Der Entwurf stammt von Antonio Guacci (1912–1995), Professor der Universität Triest, Fakultät für Bauingenieurwesen, der damit eine seiner geometrischen Utopien verwirklichen konnte. Ein Kanon klassischer Schönheit: im goldenen Schnitt, dem Eulerschen Dreieck, den Proportionen der Mathematik, in harmonischer Ausgewogenheit, schlicht, strahlend und klar: Sichtbeton, dem Brutalismus (béton brut – roher Beton) verschrieben, modular, selbsttragend. Das gleichseitige Dreieck – reich an symbolischer Bedeutung – wird durchgängig in allen architektonischen Elementen verwendet.

Oberkirche und Unterkirche sind etwa gleich groß und durch skulpturale Treppen verbunden. An der Vorder- und Rückseite erweitert je ein vorgeschobener Baukörper ­– ebenfalls im geometrischen Modul – den Kirchenraum. Die dreieckige Großform des Gebäudes mit der gekappten Spitze, welche im oberen verglasten Kirchenraum nach innen gezogen das Glockenfach bildet, zeichnet ein großes M – das Monogramm der Maria, die Glasdreiecke, der von Stahlbetonrippen getragenen Fassade eine lange Buchstabenfolge von A(ve) M(aria).