Belvedere 21: "Zeit gestalten"

Die Wahrnehmung von Zeit ist stark subjektiv geprägt. Wie wird das Zeitempfinden durch äußere Einflüsse, gesellschaftliche Phänomene und aktuelle Krisen beeinflusst? Die Künstlerinnen und Künstler dser Ausstellung im Belvedere 21 nähern sich dem (Kultur-)Phänomen Zeit über fotografische Techniken. Zu sehen sind Werke aus der Sammlung des Belvedere und der Artothek des Bundes von Andreas Duscha, Peter Köllerer, Julie Monaco, Anja Ronacher, Ugo Rondinone, Eva Schlegel und Günther Selichar.

Die Zeitmessung existiert seit rund fünftausend Jahren. Trotz der Zuverlässigkeit hochmechanisierter, elektronischer und digitaler Messgeräte erleben wir Zeit stark subjektiv – als Kontinuum, als Intervall oder auch als erinnerte Zeit. In den letzten beiden Jahren der Pandemie ist unser Leben abrupt ausgebremst worden. Das seit der Industrialisierung vorherrschende Gefühl des Dahinrasens von Zeit, unser fortwährendes Kämpfen fast gegen die Zeit, wurde von der Wahrnehmung einer starken zeitlichen Dehnung, einer expandierenden Gegenwart abgelöst.

Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung wählen fotografische Techniken – und dazu gehört auch der Film – für ihre Auseinandersetzung mit unserer Lebenswelt und dem Thema der Wahrnehmung von Zeit. Denn in der Fotografie ist es einerseits möglich, einen einzelnen Augenblick der flüchtigen Wirklichkeit und damit absolute Präsenz im Bild festzuhalten, andererseits verweist ein Foto immer auf etwas einst Dagewesenes, Vergangenes und ist damit ein Werkzeug der Erinnerung. So werden in den Arbeiten Zeitspannen und -intervalle, aber auch kulturzeitliche Dimensionen und Kontexte thematisiert. Die künstlerische Praxis reicht dabei von der Übersetzung von Zeitmessung in die Fotografie, dem Festhalten von Arbeitsprozessen über die Bearbeitung vorgefundener Fotografien bis hin zur Aneignung fotografischer Ästhetik in digital generierten Bildern. Zentral für alle hier vertretenen künstlerischen Positionen ist, mittels fotografischer Techniken Bilder zu konstruieren und Verweise auf die außerbildliche Realität sichtbar zu machen, nicht diese abzubilden.

Bei Andreas Duscha dient das Medium der Fotografie der Vermessung von Zeit mittels einer sogenannten "Blumenuhr". Inspiriert von der Erfindung des schwedischen Naturwissenschaftlers Carl von Linné lichtete Duscha mit einer Lochkamera über einen Zeitraum von 24 Stunden zwölf Pflanzen ab, die jede jeweils zu einer anderen Tageszeit ihre Blüten öffnete. Dadurch schuf er eine poetische Darstellung von Zeiträumen, Licht und Bewegung – drei Variablen, die sowohl im natürlichen Lebensraum der Pflanzen als auch im fotografischen Prozess von Bedeutung sind.

In Anja Ronachers Fotoserie "Die Namenlosen" erfüllt die Technik der Fotografie die Auseinandersetzung mit scheinbar unvorstellbaren Zeitspannen. Ronacher porträtiert Dinge aus längst vergangener Zeit, die nun in Museumsvitrinen überdauern. Sie fotografiert die Objekte stets in ihrer aktuellen musealen Präsentationsform. Lange Belichtungszeiten verleihen den Gegenständen eine feine Oberflächenstruktur sowie Tiefe. Ronachers Fotografien lassen diese Zeugnisse der Vergangenheit selbst vom Werden und Vergehen erzählen.

Kalte Bildschirme – cold screens – sind die Bildmotive einer von Günther Selichar 1997 begonnenen Werkserie. "Screen, cold #12" zeigt eine ins Überdimensionale vergrößerte Digitaluhr. Die Körperhaftigkeit des Geräts lenkt die Aufmerksamkeit auf das eigene Zeitempfinden. Die Zeit scheint stillzustehen oder abgelaufen. Die Abwesenheit des digitalen Bildes erzeugt einen Moment der Leere. Selichar hinterfragt die verschiedenen Bedeutungsebenen digitaler und analoger Bildproduktion und was sie neben der Illusion noch sichtbar machen können.

Die Absenderinnen und Absender unerwünschter Spam-Mails sind für Peter Köllerer Ausgangspunkte der Serie "Namen". Der Künstler sucht eine Form, den hinter Pseudonymen versteckten Individuen Gesichter zu geben. Nach dem Abfotografieren eines modellierten Kopfs zerstört Köllerer sein plastisches Werk wieder und formt aus denselben paar Kilos Plastilin den nächsten Kopf. So entsteht ein Archiv von künstlichen Individuen, das nicht nur den Werkprozess festhält, sondern auch die Erinnerung und die Dauer der Auseinandersetzung sichtbar macht.

Eva Schlegel greift in ihrer Arbeit wiederholt auf vorgefundenes Fotomaterial zurück. Dem Konservieren der fotografischen Fundstücke stehen dabei ein Prozess des Verschwindens und ein Verschwimmen der Erinnerung an die Dargestellten gegenüber. Mit Unschärfe konfrontiert Schlegel auch die Betrachterinnen und Betrachter einer überlebensgroßen Frauendarstellung. Beim Abfotografieren aus einem Modemagazin wird Individualität zugunsten einer schematischen Darstellung von Weiblichkeit getilgt. Das fotografische Bild wird durch die Unschärfe aus jedem zeitlichen und popkulturellen Kontext isoliert.

Bei Julie Monaco negiert die digitale Konstruktion von Landschaft jede zeitliche Einordnung. Die Künstlerin befasst sich seit 2001 mit der computererzeugten, nahezu rein digitalen Bilderstellung. Ins Analoge überführt sie ihre Werke mithilfe unterschiedlicher Druck- und fotografischer Verfahren. Die Arbeit "r/AI_#10" gehört zu einer 2010/11 erstellten Serie, die stark abstrahierte Landschaftsmotive bis hin zu reduzierten horizontalen Farbstreifen unterschiedlicher Breite zeigt. Sie bedient sich einer fotografischen Bildästhetik, ohne Fotografie zu sein.

Ugo Rondinones Film Cigarettesandwich lädt durch Verlangsamung und Monotonie zur Kontemplation über Zeit und Vergänglichkeit ein. Ein junger Mann geht an einer Backsteinmauer vorbei und durchläuft dabei im Loop das gedämpfte Farbspektrum eines Regenbogens. Die aus Rainer Werner Fassbinders Götter der Pest von 1969 entnommene Szene dauert eigentlich nur 45 Sekunden, doch Ugo Rondinone verlangsamt und wiederholt die Bewegung, dehnt die Zeit. Die Arbeit schlägt auch eine inhaltliche Brücke zu Rondinones Einzelausstellung Akt in der Landschaft, die noch bis 1. Mai im Belvedere 21 zu sehen ist.

Zeit gestalten - Fotografie und Film aus der Sammlung
24. März bis 4. September 2022