Wenn Material zur Form wird

Über Jahrhunderte hinweg stand die makellose Ausarbeitung der Form im Zentrum des künstlerischen Schaffens. Das Material war nur ein Mittel zum Zweck. Es musste gebändigt und überwunden werden. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aber haben die Materialien, Vorläufern wie etwa Marcel Duchamp folgend, die Oberhand gewonnen. Nicht nur als edel geltende, wie Marmor und Gold, sondern gerade auch vielfach als „minderwertig“ angesehene Materialien wie Erde, Fett, Industriemüll, Plastik, Stahl, textile Materialien oder auch Abfallprodukte halten lauthals Einzug in den Raum der Kunst. Dies wurde zunächst als massive Grenzverletzung erlebt. Dann aber evozierte der Einsatz solcher häufig aus dem Alltag gegriffenen Materialien und Dinge neue Formen und Perspektiven. Mit den bislang diskriminierten und nicht für kunstwürdig befundenen Stoffe konnten mit einem Male pointierte Aussagen über den Zustand der Gegenwart und aktuellen Befindlichkeiten der Gesellschaft getroffen werden und die Themen der Zeit auf eine neue Weise sichtbar gemacht werden.

Materialien unterschiedlichster Ausprägung bilden denn auch den Ausgangspunkt für die Herbstausstellung in der Artenne Nenzing. Siebzehn Künstlerinnen und Künstler respektive Künstlerduos präsentieren zwei- und dreidimensionale Kunstwerke, die vor Augen führen, wie breit und vielseitig die Gestaltungsmöglichkeiten sind, die sich durch den Einsatz verschiedenster Werkstoffe eröffnen. Die verwendeten Materialien reichen dabei von Keramik, Holz, Eisen und Stahl bis hin zu Textilien, Glas oder Kunststoff sowie Fertigprodukten aus Baugroßhandlungen. Die Werke zeugen vom Erfindungsreichtum der Ausstellungspartizipienten, von der Lust am Umgang mit dem Material und dem Drang, klassisch-traditionelle Formalsprachen zu überwinden.

Die Beiträge sprengen dabei auch den von der Industrie forcierten Drang der Formenstandardisierung und der „Gleichschaltung“ formaler Anliegen. So legen die Künstlerinnen und Künstler unter anderem die Texturen und Geheimnisse, die den Werkststoffen inne wohnen, frei, und transformieren sie in neue Sinnzusammenhänge. Die Arbeiten erzeugen Öffnungen und Leerräume, geben Einblicke in das Innere und Äussere des Materials und bieten der Betrachterschaft auch immer wieder haptische Anreize und unzählige Denkanstösse.

Ein weiterer Ausgangspunkt der Schau ist, dass sich die Artenne Nenzing in einer kommenden Ausstellung umfassend mit der Industrialisierung des Walgaus und den damit zusammenhängenden Einflüssen auf die wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklung dieses regionalen Raumes auseinandersetzen will. Aus industrieller Sicht war ja der Walgau früher von der Textilwirtschaft geprägt. Erst in neuerer Zeit haben sich andere Branchen wie etwa die Holzindustrie, Eisen- und Metallverarbeitung, Maschinenbau oder Kunststofftechnik verstärkt im Walgau festgesetzt.

Die Ausstellung „Wenn Material zur Form wird“ könnte somit auch als künstlerischer Einstieg in diese industriegeschichtliche Folgeausstellung betrachtet werden.

Keramik als erster „Kunststoff“

Der erste „Kunststoff“ in der Menschheitsgeschichte ist die Keramik: Der Mensch formt Erde zu einem Objekt und Feuer verwandelt es in steinhartes Material. Das Material selbst bestimmt dominant die Thematik keramischer Arbeiten: Ein Gefäß zum Beispiel ist nützlich aufgrund seiner Leere.

In der Ausstellung sind gleich mehrere Positionen vertreten, die sich mit Keramik auseinandersetzen. So etwa die in Nüziders lebende Amrei Wittwer, die auch als Autorin und Musikerin bekannt ist. Sie zeigt eine Auswahl an Schalen, die als Bildträger für Tiere fungieren. Hintergrund dieser Arbeiten ist, dass Tiere in animistischen Kulturen einen ähnlichen Stellenwert haben wie Geister und Dämonen. Eine Kreatur kann mit einem unbewussten Verlangen verglichen werden. Die Schlange etwa ist Asklepios, dem antiken göttlichen Heiler geweiht, sie ist das Symbol der Heilkunst. Sie verkörpert den Dämon oder Genius des Heilenden. Die Katze wiederum steht in der christlichen Kultur für Frauen, die nicht mit den üblichen Erwartungen an Gehorsamkeit, Bescheidenheit und Biederkeit konform gehen.

Desweiteren sind von Wittwer fünfundzwanzig „Feuerhunde“ zu sehen. Diese installativ präsentierten Objekte stehen für hermetische Gefässe aus Erde, die im offen Feuer gebrannt und geflammt wurden. Das hermetische Gefäss verweigert sich grundsätzlich seiner Funktion, es ist verschlossen. In der Alchemie gilt es als das Behältnis der Gegensätze, es empfängt und nährt die Materie, die verwandelt wird. Die Form, das Material und die Machart der Feuerhunde ist angelehnt an prähistorische Tonhornobjekte, die in weiten Teilen Europas in der Bronzezeit gefunden wurden.

Der in Götzis beheimatete Keramikkünstler Ewald Hotz wartet mit einer Serie von sieben in Gold eingefärbte Gehirnskulpturen aus Keramik auf. Das Gehirn interessiert ihn nicht nur aus formalen Gründern, sondern auch von der Phänomenalität her. Da es zum Beispiel bei längerem Entzug von Außenreizen Trugwahrnehmungen erzeugt, die wir für real halten. Menschen aller Kulturen haben dieses intuitive Wissen genutzt und durch spezielle Techniken und Rituale, ekstatischen Tanz, Ausloten von Grenzen, Versenkung ins eigene Innere, aber auch durch Drogen "andere Wirklichkeiten" erfahren. In dieses Schema passen auch seine „dystopischen“ Keramikköpfe, die von genauso phantasievollen wie bedrohlichen surrealen Elementen und rätselhaften Applikationen geprägt sind. Hotz: „Die dystopische Sicht auf das Individuum und unsere Gesellschaft, die permanent einer Flut an Informationen und Bildern ausgesetzt ist, kaum die Möglichkeit besitzt, sich dieser Flut zu entziehen, beschäftigt mich immer wieder.“

Luka Jana Berchtold zeigt mit „Got caught so far“ einen Ball aus polierter, unglasierter Keramik. Der Ball, Symbol des gemeinsamen Spiels, als Verbindendes Element, wirkt auf den ersten Blick wie aus Leder. Aber es handelt sich eben um unglasierte, polierte Keramik, welche durch die hohe Temperatur beim Brand eine dunkelbraune Farbe angenommen hat. Eingefettet und poliert wohnt dem zerbrechlichen Material eine speckige Weichheit inne. „Got caught so far“ (im Deutschen „bisher (wurde ich) erwischt/gefangen“) – Wie ein Auszug aus einem Gespräch zwischen Ball und Fortuna, der Göttin des Schicksals, soll der Titel eine Art Dankbarkeit über das Bestehen, das Sein oder Noch-Sein ausdrücken.

Von Eisen und Stahl bis zu textilen Stoffen

Teil der Kunstschau sind auch zwei Skulpturenkonstellationen des in Frankreich lebenden Tiroler Künstlers Markus Strieder. Im Grunde genommen handelt es sich um zwei Materialhaufen unterschiedlicher Ausprägung, die jeweils ganz explizit der Frage nachgehen, wie sich dasselbe Material nach jeweils unterschiedlicher Bearbeitung (Stahl walzen bzw. schmieden) in eine Plastik respektive Skulptur verwandelt und ab welchem Zeitpunkt und auf welche Art und Weise die Kunst, also die Plastik eigentlich ins Material kommt.

Gerold Tagwerker installierte beim Vorplatz und im Eingangsbereich der Artenne drei Skulpturen, die aus jeweils drei Stahlrohren bestehen, die vertikal, zeltartig miteinander verschraubt wurden. Die Objekte selbst können und sollen verwendet werden, bieten sich doch die Querstangen jeweils als Sitzgelegenheit an. Bei diesen Werken handelt es sich gleichsam um skulpturale Zwitter zwischen konstruktiver Form und improvisierter Funktion. Deshalb war dem aus Feldkirch stammenden und seit Jahrzehnten in Wien lebenden Künstler denn auch eine leichte, eher beiläufige Positionierung wichtiger, als eine absolute, auratische Setzung direkt im Ausstellungsraum.

Text, Körper und Kleidung sind wiederkehrende Elemente in den fotografischen Werkserien und Installationen von Dagmar Höss. Bei der in New York begonnenen Serie „It’s complicated“ bilden Texte und Textfragmente den Ausgangspunkt für bestickte Objekte und die daraus entstandenen Fotografien. Dabei geht es um das Spannungsverhältnis in der Auseinandersetzung mit „Shapewear“ - also Wäsche, die den weiblichen Körper in optimierte Form bringen soll. In den USA sind diese unter der Alltagskleidung getragenen Wäschestücke ein alltägliches Accessoir und in jeder denkbaren Größe und Hautnuance erhältlich. Dagmar Höss setzt die historische Technik des Stickens ein, die sich speziell im 19. Jahrhundert zu einer vornehmen bürgerlichen Tätigkeit entwickelte. Vor allem Frauen zugeschrieben, symbolisierte sie Häuslichkeit, Fleiß und Anstand. In einem langsamen Prozess werden die Textpassagen gestickt, bleiben im Stickrahmen, unfertig und lesen sich wie stille kritische Kommentare an das eigene Ich. Es entstehen Fotografien von fragmentierten Frauenkörpern in diesen Wäschestücken. Durch die unterschiedliche Reihung und Hängung der Fotografien können immer wieder neue Narrative herausgelesen werden.

Claudia-Maria Luenig beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit der An- und Abwesenheit des Körpers im privaten als auch öffentlichen Raum. In den textilen Arbeiten wird der abwesende Körper erfasst, die gehäkelte Form orientiert sich direkt am Körper der Künstlerin.
Die Abstraktion des Körpers unterstützt die Identifikation des "Anderen". Man kann nicht nur die abstrakte Form erkennen, sondern die Überlagerung kreiert eine Illusion der Wirklichkeit. Und damit verdeutlichen die Arbeiten, ob Skulpturen oder Zeichnungen, die Grenzen zwischen Körper, Haut und Leib.
Das Wirken an der Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen ist die Schnittstelle zwischen dem Individuum und der sozialen Welt, der Treffpunkt von Privatem und Öffentlichem.

Der aus Dornbirn stammende Franz Türtscher (Jahrgang 1953), der seit Jahrzehnten in Wien lebt, zeigt Wandobjekte, die aus unterschiedlichen industriellen Materialien sowie Acrylfarbe bestehen. Wie seine Gemälde repräsentieren auch diese Objekte Ordnungssysteme aus Material, Form, Rhythmus und Farbe, denen das Motiv des Rasters zugrunde liegt. In solchen Systemen spielen Gegensätze eine zentrale Rolle: Horizontales und Vertikales, Hell und Dunkel, Monochromie und Farbe, Definiertes und Offenes schließen sich in der Struktur des Rasters keineswegs aus, sondern bedingen sich gegenseitig.

Die 1967 geborene Absolventin der Wiener Akademie der Bildenden Künste, Franziska Stiegholzer, ist mit Objekten in der Schau präsent, die aus simplen, allgäglichen Materialien entwickelt wurden, die in Baumärkten zu finden sind. Die von ihr geschaffenen Kunstwerke sind von einer einfachen, klaren und reduzierten Formalsprache geprägt, die unter anderem auf Wiedererkennungswerte setzen. Nicht zuletzt geht es der Wiener Künstlerin, die heute in Frastanz lebt, mit ihren Objekten darum, beim Betrachter eine Art von Direktheit und Unverfälschtheit des Schauens auszulösen.

Bei den Werken von Sophie C. Grell handelt es sich um Materialabdrücke. Bei ihr impliziert die Schönheit des Zerrissenen ein vorangegangenes Narrativ, das Papier selbst kann als empfindliche Oberfläche ähnlich einer Haut betrachtet werden, auf der sich eine neue Realität durch intensiven Druck abgebildet hat. Im neu entstandenen Bildobjekt ist das abgedruckte Material befreit von seiner ursprünglichen Funktion und Ordnung. Die Arbeiten greifen auf die Vorstellung eines Raums außerhalb der Ordnung zurück. Die Auflösung und dreidimensionale Manipulation des Rasters durch den hand- werklichen Prozess bei der Entstehung der Bilder wird unmittelbar mit dem Verschwin- den oder zumindest mit dem Rückzug dieser Ordnung kurzgeschlossen. Der Wider- spruch zwischen dem ursprünglichen Bild, das durch Ordnung überhaupt erst entsteht und dem neuen Bildobjekt, das sich dieser entzieht, ermöglicht es, das Raster nicht als Behauptung einer bestimmten Regel zu betrachten, sondern durch den Prozess seiner Veränderung, als Vermittlung zwischen Ordnung und Unordnung, zwischen Planung und Ungeplantem.

Für die 1993 in Linz geborene Bildhauerin und Zeichnerin Judith P. Fischer muss Kunst greifbar sein. Wie das Leben. Und doch Neues ausdrücken. Das Material ist oftmals Grundlage, Inspiration und Haptik in einem und Ausgangspunkt künstlerischer Überlegungen.
Silikonschläuche etwa, zu einem Knäuel gewickelt und in einem Acrylglas-Würfel verstaut, wecken Assoziationen zu Chaos und Unordnung. In Acrylglas-Kästen geschlichtete Gummiringe, alle in der gleichen Größe, erzeugen eine Verdichtung auf engstem Raum.
Federn sind nicht immer leicht, vor allem dann nicht, wenn sie aus 25mm Rundstahl gerollt wurden, wie dies von Judith P. Fischer. Die Linien der Künstlerin „haben Materialität, sind stofflich, haben Masse. Sie sind verdichteter Raum. Oder sie zeichnen verdichteten Raum nach!“ (Cornelia Hellstern in: „Reduktion durch Verdichtung“).

Wenn Material zur Form wird:
Roland Adlassnigg, Luka Jana Berchtold, Bildstein/Glatz, Judith P. Fischer, Bernhard und Mathias Garnitschnig, Sophie C. Grell, Dagmar Höss, Ra'anan Harlap, Ewald Hotz, Claudia-Maria Luenig, Bianca Lugmayr, Pavel Schmidt, Franziska Stiegholzer, Markus Strieder, Gerold Tagwerker, Franz Türtscher, Amrei Wittwer

Artenne Nenzing
4. September bis 9. Oktober 2022
Öffnungszeiten: Sa, So 16 - 19 Uhr sowie bei Veranstaltungen und nach Vereinbarung
Kurator: Karlheinz Pichler