Ein dunkler Holzkopf

8. Februar 2023
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Guillermo del Toro darf sich über eine Oscarnominierung für seine Neuinterpretation von Pinocchio freuen. Der Kinderbuchklassiker wurde unzählige Male für das Kino adaptiert, jedoch selten so düster wie vom mexikanischen Kultregisseur. Zu sehen auf Netflix.

"Wenn du mich weiterhin so anlügst, dann wächst deine Nase von hier bis zur Kirchturmspitze, wie bei Pinocchio!", das war eine Drohung, die dem Autor dieser Zeilen das kindliche Lügen austreiben sollte. Die Geschichte der lebendigen Holzpuppe, deren Nase durch gelogenen Dünger immer weiter wächst, reiht sich in der öffentlichen Wahrnehmung rasch in die pädagogischen Lehrstücke des Disney-Kindheitserinnerungen ein. Die Moral war und ist auch für das junge Publikum spürbar: Nur wer brav und artig in die Schule geht, darf ein richtiger Junge werden.

In seinem Vorwort zu einer neuen englischsprachigen Ausgabe von Pinocchio beschreibt Umberto Eco, wie verwirrt er als Kind von der Zeichentrickversion aus dem Haus Disney war: Statt eines spitzen Kopfschmucks, den der Italiener von den populären Buchillustrationen Attilio Mussinos kannte, trug diese Puppe einen Tiroler Hut. Seine Nase war abgerundet und nicht geschliffen, seine Bewegungen waren viel zu geschmeidig für eine Holzmarionette. Ganz zu schweigen von der Handlung des Films, die in Anlehnung an den Originaltext ausgesprochen frei gestaltet wurde. Eco schreibt weiter, er könne inzwischen über diese Abweichungen hinwegsehen, vorrangig weil der Zeichentrickfilm doch zur weltweiten Verbreitung der von ihm hochgeschätzten literarischen Vorlage geführt habe.

Das italienische Kunstmärchen erschien 1881 erstmals als Fortsetzungsgeschichte in einer Wochenzeitung und wurde seitdem unzählige Male für Film und Fernsehen adaptiert. Die deutschsprachige Wikipedia listet über 30 Einträge, dazu kommen Umsetzungen für Radio und Bühne mit und ohne Gesang und angepasst an die unterschiedlichsten Altersgruppen.

Im Jahr 2022 wurde der inzwischen rechtefreie Stoff von den großen Streaming-Konkurrenten Disney+ und Netflix ein weiteres Mal umgesetzt. Die Neuinterpretationen könnten ungleicher nicht sein.

Aus dem gleichen Holz geschnitzt?

Die Disney+ Version zitiert teilweise bis zur Dialogzeile den bekannten Disney-Film von 1940 und mischt dabei Realfilm mit digitaler Animationstechnik. Auch das glupschäugige Design der Zeichentrickvorlage wurde übernommen, wodurch die titelgebende Figur noch emotions- und ausdrucksloser daherkommt, als man es von einer Holzpuppe erwartet. Der Film hascht mit zeitgeistigen Anspielungen auf die Internet-Kultur und selbstreferenziellen Verweisen auf andere Disney-Produktionen nach Nostalgie- und Wiedererkennungsmomenten, verliert dabei aber die eigentliche Geschichte aus den Augen.

Wesentlich dunkler fällt die Netflix-Adaption aus, erzählt doch Regisseur Guillermo del Toro die Geschichte in seiner gewohnt düsteren Handschrift nach. Auch hier taucht jene Grille auf, welche schon in der literarischen Vorlage als moralische Instanz das Fehlverhalten des Holzjungen tadelt. Guillermo del Toros genialer wie einfacher Einfall ist es, dass die Grille im Inneren von Pinocchio wohnt – womit klar wird, woher die Erzählperspektive stammt. Auch können so dramaturgisch glaubwürdig längere Zeitsprünge in geraffter Form erzählt werden – die Grille ist ja überall dabei und kann aus erster Hand berichten.

Doch wie bereits im oscarprämierten Film "Pans Labyrinth" aus dem Jahr 2007 setzt der Regisseur die vermeintliche Fantasiegeschichte vor die brutale Realität des europäischen Faschismus. So tritt an einer Stelle gar Mussolini selbst auf und lässt Pinocchio aufgrund seiner unzureichenden Tanzdarbietung erschießen. Immer wieder stirbt Pinocchio in diesem Film, ersteht aber christusgleich von den Toten auf. Das Kreuzgangsmotif taucht vermehrt auf, auch scheut die Regie nicht vor einer Gegenüberstellung von Pinocchio und dem hölzernen Corpus Christi in einer vom Bombenhagel halb zerstörten Kirche.

Einen wohltuenden und erhellenden Kontrast bietet die Filmmusik, denn wie bei der Konkurrenz kommt es zu kurzen Musical-Einlagen. Wärmstens empfohlen sei diesbezüglich die englischsprachige Originalausgabe, leihen doch bekannte Schauspieler wie Ewan McGregor, Tilda Swinton, Cate Blanchet oder Christoph Waltz den Figuren ihre Stimme. Aber eben nur die Stimme, der Film ist komplett animiert – und das von Hand!

High-Tech Puppenkiste

Das ist das große Alleinstellungsmerkmal von del Toros Regie. Den anders als Disney setzt die Netflix auf das Stop-Motion-Verfahren. Dabei wird der Großteil der Filmkulisse als echtes Filmset aufgebaut, auch die Figuren sind echt und die Animationen werden in Handarbeit in langwierigen Einzelbildaufnahmen zum Leben erweckt. Laut Regisseur del Toro dauerte die Produktion daher über zehn Jahre!

Um zwischen den "menschlichen Puppen", wie Geppetto eine ist und der hölzernen Puppe Pinocchio eine visuelle Unterscheidung zu erzeugen, werden verschiedene Stop-Motion-Techniken eingesetzt.

Die Pinoccio-Puppe wurde digitalen Modellen folgend komplett im 3-D-Drucker hergestellt. Sie hat abnehmbare Gesichtsteile, so können die Augen und der Mund händisch ausgewechselt werden. Die "menschlichen" Figuren hingegen sind mechanische Puppen, die mit Silikonhaut überzogen sind. Durch vorsichtige Handbewegungen der Animatoren kann die darunterliegende mechanische Muskulatur verändert werden, um so realistische Bewegungsabläufe zu simulieren.

"Animation wurde im Kopf der Konsumenten zu einem Genre, aber es ist auch eine Kunstform", erzählt Regisseur Guillermo del Toro in einer halbstündigen Begleitdoku auf Netflix: "Von allen Kunstformen der Animation ist die heiligste und magischste jene der Stop-Motion. Weil sie die Verbindung zwischen dem Animator und der Puppe ist."

Pinocchio ist die Geschichte einer Holzpuppe, die durch Magie lebendig wird. Guillermo del Toro erzählt sie mithilfe von Puppen, die durch die Magie des Kinos lebendig werden. Übrig bleibt eine zauberhafte Matrjoschka, die alle vorausgegangen Pinocchio-Erzählungen dahinter verschwinden lässt.