Unerwartete Begegnungen im Kunstmuseum St. Gallen

Die Sammlung des Kunstmuseums St.Gallen verfügt über mehr als 10‘000 Objekte. Sie ist mit dem Museum gewachsen und reflektiert Interessen und Schwerpunkte des Programms. Dieses hat sich, wie bei den meisten Museen in der Schweiz, an einer von Männern dominierten Kunstgeschichtsschreibung orientiert. Kunstwerke von Künstlerinnen sind in der Sammlung des Museums bis heute untervertreten. Die Ausstellung setzt ein Zeichen in eine neue Richtung.

Die durch Leihgaben erweiterte Sammlungspräsentation stellt weibliche Perspektiven in den Mittelpunkt. Die thematische Ausstellung bricht mit einer konventionellen Leseart von Schlüsselpositionen in der Sammlung. Werke von Richard Serra, Martha Cunz, Per Kirkeby, Johanna Nissen-Grosser und Nam June Paik erhalten durch Arbeiten von Marion Baruch, Uriel Orlow, Sherrie Levine und Sturtevant einen neuen Dreh.

Richard Serra gilt als Schwergewicht. Nicht nur, was seine Rolle in der Kunstgeschichte betrifft – auch seine Skulpturen sind, wortwörtlich, tonnenschwer. Der Name von Marion Baruch hingegen dürfte nur Wenigen bekannt sein. Wie viele Künstlerinnen wurde sie erst im hohen Alter richtig von der Kunstwelt "entdeckt". Im ersten Raum der Ausstellung mit dem Thema "Entmaterialisierung" begegnen sich die Skulpturen dieser beiden Künstler:innen, die eine ganz unterschiedliche Sprache sprechen, obwohl sie in ihrer Form ähnlich sind.

Serras Skulpturen, die dem Minimalismus zugeordnet werden, machen Eindruck. Sie sind da, ohne etwas abzubilden: reine, materielle, wuchtige Präsenz. Kritiker:innen haben die Kunst des Minimalismus auch als (männliche und weisse) Machtdemonstration kritisiert: formgewordenes Patriarchat. Marion Baruchs Arbeiten sind das pure Gegenteil. Die drapierten Stoffreste, ausgeschnittene Silhouetten der prêt-à-porter Industrie, sind fragil, leicht, schwebend. Baruchs Skulpturen sprechen die Sprache des Post-Minimalismus: einem Zugang zu industriellem Material, der sich auf die eigene Körperlichkeit der Künstler:innen bezieht und persönlicher gefärbt ist als jener des Minimalismus.

Weiter stellt Unerwartete Begegnungen unter dem Thema "Alpine Ökologie" Sammlungs-Werken von Martha Cunz eine Videoarbeit von Uriel Orlow gegenüber, illustriert den jeweiligen Kunst-Kosmos von Johanna Nissen-Grosser und Per Kirkeby, die sich beide stark für Figuren, Landschaft und Natur interessieren. Im letzten Raum präsentiert das Kunstmuseum St.Gallen dem Publikum nach längerer Zeit die frisch restaurierte und spektakuläre 76-Kanal-Videoinstallation von Nam June Paik, Beuys/Voice – A Hole in the Hat, 1987/1990, deren erste Version 1987 auf der documenta 8 in Kassel gezeigt wurde, im Dialog mit Werken von Künstlerinnen – namentlich Sturtevant und Sherrie Levine ­– die sich, ebenso wie Paik, auf die Künstler-Figur Joseph Beuys beziehen.

Unerwartete Begegnungen
Neue Perspektiven auf die Sammlung
25. Februar bis 5. November 2023