Ein großer Chronist deutscher Geschichte: Edgar Reitz

Mit der Unterzeichnung des Oberhausener Manifests gehörte Edgar Reitz 1962 zu den Mitbegründern des Jungen Deutschen Films, doch sein herausragendes Opus magnum gelang ihm erst rund 20 Jahre später mit der TV-Serie "Heimat", die er in den folgenden Jahrzehnten zu einer Trilogie ausbaute. Das Filmarchiv Austria widmet dem 1932 geborenen Hunsrücker derzeit eine Retrospektive.

Nicht nur klein und unbedeutend, sondern auch fiktiv ist der Ort Schabbach im Hunsrück, doch mit der 1984 präsentierten 16-stündigen TV-Serie "Heimat" prägte er sich ins Gedächtnis der Zuschauer ein. Nicht nur in der ARD wurde diese Chronik, in der Reitz die Geschichte der Maria Simon und ihrer Familie von 1919 bis 1982 erzählt und in genialer Weise mit den weltgeschichtlichen Ereignissen verknüpft, zum Erfolg, sondern sie wurde auch international auf Filmfestivals von Venedig bis Locarno begeistert aufgenommen.

Reitz befreite den Heimatfilm damit vom nationalsozialistischen Beigeschmack der Blut-und-Boden-Ideologie und entwickelte mit stupender Liebe zum Detail und beeinflusst auch von persönlichen Erfahrungen eine bewegende realistische Chronik, bei der er zudem spielerisch zwischen Schwarzweiß und Farbe wechselte.

Mit diesem Welterfolg wurde der am 1. November 1932 in Morach im Hunsrück geborene Reitz auch zum Wegbereiter dieser ausladenden Erzählform. Ihn selbst ließ dieses Schabbach im Hunsrück und die Schicksale seiner Protagonisten nicht mehr los. Im 1992 fertiggestellten 25-stündigen "Die zweite Heimat – Chronik einer Jugend" erzählte er mit der Geschichte Hermanns, der 1960 nach München aufbricht und dort Musik studiert quasi die Geschichte seines Alter Egos.

Denn auch Edgar Reitz war nach seinem Abitur 1952 nach München übersiedelt, um dort Germanistik, Publizistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften zu studieren. 1957 begann er mit Studienkollegen Kurzfilme zu drehen und machte sich mit kurzen Dokumentar- und Industriefilmen, bei denen er mit den filmischen Ausdrucksformen, vor allem mit den Möglichkeiten von Bild- und Tonschnitt, experimentierte einen Namen.

Als Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests 1962 zählte er nicht nur zu den Mitbegründern des Jungen Deutschen Films, sondern lernte so auch Alexander Kluge kennen, bei dessen Debüt "Abschied von gestern" (1966) er die Kamera führte, und an dessen "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod" (1974) er am Drehbuch mitarbeitete.

Gemeinsam mit Kluge gründete er 1963 auch das Institut für Filmgestaltung an der Ulmer Hochschule für Gestaltung (HfG), an der er bis zu ihrer Schließung 1968 Regie und Kameratheorie lehrte. Seinen ersten langen Spielfilm drehte er 1967 mit "Mahlzeiten", in dem er in fragmentarischem Stil mit dokumentarischen Einschüben und einer Collage bildlicher und textlicher Mitteilungen eine Liebes- und Ehegeschichte erzählte.

Während Kluge am analytischen Film festhielt, tendierte Reitz ab den 1970er Jahre stärker zum narrativen Film. In "Die Reise nach Wien" (1973) erzählte er - für die damalige Zeit völlig ungewöhnlich für einen deutschen Film – in leichtem Ton von der Vergnügungsreise von zwei Hunsrückerinnen während des Zweiten Weltkriegs nach Wien.

Auf das Kriegsende blickte er im Schwarzweißfilm "Stunde Null" (1976), in dem er aus der Perspektive eines Jungen ein "vielschichtiges Bild eines dörflichen ostdeutschen Mikrokosmos zwischen Abzug der Amerikaner und Ankunft der Roten Armee im Sommer 1945" (Nikolas Hülbusch) zeichnet.

Schiffbruch bei Publikum und Kritik erlitt er zwei Jahre später mit "Der Schneider aus Ulm" (1978), in dem sich in der Schilderung des Scheiterns eines deutschen Flugpioniers im frühen 18. Jahrhundert auch autobiographische Züge finden.

Obwohl dieser Film zu einem der größten Flops der deutschen Filmgeschichte wurde, vertiefte sich Reitz in ein weiteres historisches Projekt und landete nach vierjähriger Recherche und Vorbereitung, in deren Rahmen auch der Dokumentarfilm "Chronik aus den Hunsruckdörfern" (1980) entstand“, 1984 mit "Heimat" einen Welterfolg.

Nach "Die zweite Heimat" (1992) spannte er in "Heimat 3 – Chronik einer Zeitenwende" (2004) den Bogen vom Fall der Berliner Mauer bis zur Jahrtausendwende und bindet in die Geschichte Hermanns und die Rückkehr nach Schabbach wiederum weltgeschichtliche Ereignisse ein.

War Reitz damit in der Gegenwart angekommen, so blickte er im vierstündigen Kinofilm "Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht" (2012) zurück auf die 1840er Jahre in Schabbach. Mit der Geschichte der Vorfahren der Protagonisten der "Heimat"-Trilogie und dem Traum der Auswanderung nach Brasilien, gelang ihm ein weiteres grandioses Meisterwerk, in dem eine vergangene Welt in einzigartiger Weise zum Leben erweckt wird.

Quellen: Nikola Hülbusch: Edgar Reitz, in: Filmregisseure, Reclam 2008, S. 616-619
Rebhandl, Bert, Die andere Heimat – Edgar Reitz wird 80, FAZ, 28.10. 2012

Trailer zu "Heimat - Eine deutsche Chronik"