Kein Tipp für Etikettentrinker

22. April 2013 Kurt Bracharz
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Es gibt gute Gründe, Schweizer Weine zu trinken – jedenfalls bestimmte Sorten, also nicht unbedingt die Schweizer Signaturtraube Chasselas. Unter den aus autochthonen Traubensorten gekelterten Weinen findet man intensive Aromen, die nicht schmecken, als ob sie vom Weinadvokaten Parker empfohlen werden könnten, und da sich der Export von Schweizer Weinen in Grenzen hält, sind die Preise auch nicht in die unsinnigen Höhen etwa der Weine aus dem Bordelais oder der Supertoskaner gestiegen.

Das heißt, man kann in der Schweiz beeindruckende Weine von hoher Lagerfähigkeit zu vernünftigen Preisen einkaufen. Für Etikettentrinker ist das natürlich nichts, denn wer von denen kann schon mit Namen wie Cornalin oder Heida etwas anfangen?

Eine dieser Besonderheiten ist der Humagne Rouge. In Jancis Robinsons an sich sehr guten ampelographischen Buch „Rebsorten und ihre Weine“, Bern und Stuttgart 1997, gab es dazu nur eine sehr kurze Eintragung: "Humagne Rouge. Die stärker als Humagne Blanc verbreitete Rebsorte reift spät und erbringt ungewöhnliche, oft sehr rustikale Weine mit unbändiger Geschmacksfülle hervor, die gut auf Fassausbau ansprechen."

Selbst diese wenigen Worte enthalten einen Irrtum: Humagne Rouge hat mit Humagne Blanc nur das erste der beiden Wörter in den Namen gemeinsam, die beiden Trauben sind aber nicht tatsächlich verwandt. Das österreichische (!) "Steurers Weinhandbuch" von 1995 wusste das schon: "Humagne rouge. Eine alte Schweizer Rotweinsorte, die selten und nur noch im Wallis zu finden ist. Sie ist mit dem weißen Humagne blanc nicht verwandt."

Zur weiteren Verwirrung könnte noch beitragen, dass diese Rebe im Aostatal (wo sie vermutlich herkommt) "Cornalin" heißt, aber nicht mit der Cornalin-Traube des Wallis identisch ist.

Das "Lexikon des Schweizer Weins", Aarau 1996, deutete in seinen Artikeln zu Humagne Blanc (auch Blanche) und Humagne Rouge keinen Verwandtschaftsgrad an und schrieb über den Geschmack des Humagne Rouge: "Seltene, nur im Wallis vorkommende, aus dem Aostatal stammende Rebsorte sowie der daraus gewonnene hellrubinfarbene gehaltvolle, robuste, fruchtige Wein, der je nach Tanningehalt etwas rau schmecken kann."

Hinsichtlich des Geschmacks sind sich alle einig, auch Steurer schrieb: "kräftig, robust, tanninreich und herb (...) In günstigen Lagen kann die Rebsorte bemerkenswerte Rotweine mit rustikalem Charakter hervorbringen."

Der Humagne Rouge war in den 1960er Jahren fast schon am Aussterben, als ein neues Interesse an ihm erwachte, das ihn mittlerweile doch zur viertwichtigsten Walliser Rebsorte nach Pinot Noir, Gamay und Syrah gemacht hat. Das Zentrum seines Anbaus ist die Gemeinde Leyron im Unterwallis, wo jedes Jahr im November das Fest "Humagne en Fête" stattfindet.

Der Humagne Rouge gilt als der Wein, der am besten zu Wildgerichten passt – ja, von allen Weinen, nicht nur von den Schweizern. Das behaupten zumindest Madeleine Gay und Chandra Kurt in dem Buch "Von Humagne Rouge bis Heida", Zürich 2011: "Sein wilder, rustikaler Charakter und seine delikaten Tannine sowie seine Waldbeeraromatik machen ihn zu einem sicheren Wert, wenn es darum geht, einen Wein für diese Küche zu servieren. (...) Wildterrinen, Trockenfleisch aus Wild, Vorspeisenteller können sehr gut mit einem gekühlten Humagne Rouge (ohne Barriqueausbau) kombiniert werden. Zu süßlichen Rehgerichten passt ein etwas kräftigerer Wein, der in der Barrique gereift ist. Sicher ein Hit: die Kombination mit einem Hirsch-Entrecôte."

Während man sich früher schon zu einem Schweizer Weinhändler bemühen musste, kann man Humagne Rouge mitterweile auch bei Denner und bei der "Migros" im Bahnhof St. Margrethen kaufen.